Die Wiederentdeckung von Albert Anker als progressiver Aktivist
Sein Haus in Ins wurde zum Museum umgebaut, und das Kunstmuseum Bern zeigt eine Ausstellung seiner Werke. Der von Traditionalisten geliebte Schweizer Künstler Albert Anker findet als früher Verfechter der Frauenbildung neue Anerkennung.
Obwohl er ausserhalb seines Heimatlands kaum bekannt ist, gehört Albert Anker zu den beliebtesten und bekanntesten Künstlern der Schweiz. Seine Ölgemälde von Kindern sind aus Kalendern und Klassenzimmern nicht wegzudenken.
Er hat auch prominente Fans. «Ich denke oft an seine Werke», schrieb Vincent van Gogh 1883 an seinen Bruder Theo. «Ich finde sie so geschickt und einfühlsam interpretiert. Er ist wirklich einer von der alten Schule.»
Dennoch galt Anker nicht immer als ein Thema, das sich für die seriöse kunsthistorische Forschung eignete. Doch das ändert sich gegenwärtig.
Das Kunstmuseum Bern ist das jüngste von mehreren Schweizer Museen, die dem 1831 im Dorf Ins im Berner Seeland geborenen und 1910 dort verstorbenen Künstler eine Ausstellung widmen.
Die Ausstellung «Albert Anker: Lesende Mädchen», die noch bis zum 21. Juli in Bern zu sehen ist, beleuchtet kompakt und fokussiert einen Aspekt von Ankers Werk und setzt ihn in Beziehung zu seinem politischen Engagement für die Mädchenbildung – in der Schweiz seiner Zeit keine Selbstverständlichkeit.
Kathleen Bühler, die Kuratorin der Ausstellung, sagt, sie wolle Ankers progressive Seite zeigen. Es ist ein anderer Blick auf einen Künstler, der oft mit konservativen Schweizer Werten und einer gewissen Nostalgie für die «gute alte Zeit» in Verbindung gebracht wird.
Einer der glühendsten Anker-Fans ist Christoph Blocher, der Doyen der rechtsbürgerlichen Schweizerischen Volkspartei, der die weltweit grösste Privatsammlung von Anker-Werken besitzt.
In einem Interview mit der Neuen Zürcher Zeitung verglich Blocher Ankers Bilder mit einer «guten Predigt»: Sein Werk gelte als heilsam und tugendhaft, denn, so Blocher, «er malte die wahre Schönheit des Lebens und der Menschen».
Traditionalist durch und durch
Ein Grund dafür, dass Anker im Ausland wenig bekannt ist, liegt darin, dass der grösste Teil seines Werks in der Schweiz geblieben ist – rund die Hälfte seiner 800 Ölgemälde befindet sich in Schweizer Museen, die andere Hälfte in Privatsammlungen wie jener von Blocher.
Weniger bekannt sind seine Zeichnungen und Aquarelle, die er nicht verkauft hat und die zum grössten Teil in der Familie verblieben sind.
Man kann aber auch sagen, dass er als Künstler kein Wegbereiter war und sein Einfluss auf die weltweite Kunstgeschichte daher bescheiden blieb.
Als die Impressionisten sich abspalteten und ihre eigenen Ausstellungen organisierten, blieb Anker dem Realismus und dem offiziellen Pariser Salon treu – damals die wichtigste Kunstveranstaltung der westlichen Welt.
Anker bewunderte die Impressionisten, aber er musste auch sechs Kinder ernähren und war auf Aufträge angewiesen; er konnte es nicht riskieren, sich der Avantgarde anzuschliessen.
Dennoch sind seine Bilder von Menschen aus der ländlichen Gemeinde, in der er lebte, mehr als nur idealisierte Darstellungen des Landlebens; sie sind wertvolle historische Dokumente.
So zeigt ein Gemälde in der aktuellen Berner Ausstellung, «Das Schulexamen» (1862), ein Auftragswerk des Kantons Bern, eine Gruppe von Schulinspektoren und lokalen Würdenträgern, die eine Landschule besuchen.
Kinder – Jungen und Mädchen – lesen einen Text von einer Tafel ab. Der Raum ist mit Girlanden geschmückt, und die Kinder tragen ihre Sonntagskleidung.
Die Prüfungen und die Schulpflicht gehen auf neue Gesetze des Kantons Bern zurück. Aber erst 1874 wurde die allgemeine Schulpflicht in der Bundesverfassung verankert.
Das Tabu der gebildeten Frau
Anker konnte sieben Sprachen lesen und engagierte sich sehr für Bildung. Er war Sekretär des Schulkomitees von Ins und später an der Gründung einer Sekundarschule im Dorf beteiligt – ein neuer Schultyp, der akademisch begabten Kindern auch in ländlichen Gegenden eine Alternative zur Grundschule bot.
Zuvor hatte er verschiedene politische Ämter inne: Er war Mitglied des Berner Grossen Rats (Kantonsparlament), wo er die Annahme eines Dekrets zum Bau des Kunstmuseums empfahl; 1889 wurde er in die Eidgenössische Kunstkommission gewählt.
Lernende Mädchen kommen in seinem Werk häufig vor. Ein Porträt seiner neunjährigen Tochter Cécile, mit blauer Tinte auf Papier gemalt, zeigt sie in ein Buch vertieft, während sie in einem hellen Bereich sitzt und einen tiefblauen Schatten auf die Wand hinter ihr wirft.
«Rosa und Bertha Gugger beim Stricken»Externer Link (1885) zeigt ein älteres Mädchen, das Stift und Buch beiseitegelegt hat, um ihre kleine Schwester auf den Schoss zu nehmen und ihr beim Stricken zu helfen.
Das Werk zeigt Ankers technische Brillanz: Hände sind bekanntlich schwierig zu malen, und hier zeigt er sie bei einer komplizierten Arbeit.
Selbst in seinen Porträts von Mädchen, die anderen Tätigkeiten nachgehen, sind Bücher und Lernen angedeutet.
Ein Porträt seiner elegant wirkenden Tochter Marie von 1881 zeigt sie mit einem Schultornister.
Das «Mädchen mit Brot» von 1887 verrichtet eindeutig Hausarbeit, aber aus ihrem Korb mit Lebensmitteln lugt ein ledergebundenes Buch hervor.
Anker gewann 1866 auf dem Pariser Salon eine Goldmedaille für sein Werk «Schreibunterricht II». Es zeigt zwei junge Mädchen, die konzentriert über einem Blatt Papier sitzen, eines von ihnen mit einem Federkiel in der Hand.
Eine Schweizer Zeitschrift druckte eine andere Version dieses Motivs mit dem abfälligen Titel «Die kleinen Blaustrümpfe». Vielleicht war es ein Scherz, aber es erinnert daran, dass Mädchenbildung damals umstritten war.
In Ins daheim
In seinem Heimatort Ins, einem Dorf zwischen Bern und Neuenburg, sieht es in Ankers Atelier immer noch so aus, als könnte er jeden Moment von seinen Reisen zurückkehren und sich sofort an die Arbeit machen.
Seine Staffelei steht bereit, an der Wand neben seinem Schreibtisch hängt ein Sack mit unbeantworteten Briefen. Seine Farben stehen in einer Vitrine fein säuberlich aufgereiht auf einem Regal.
Durch die Oberlichter, die er einbauen liess – angeblich die ersten ihrer Art in der Schweiz, inspiriert durch einen Besuch im Pariser Louvre – fällt weiches Licht aus dem Norden ein, ideal zum Malen.
«Er sagte immer, seine Oberlichter seien besser als die im Louvre, weil sie wasserdicht seien», sagt Daniela Schneuwly, Leiterin des Centre Albert Anker.
Das Zentrum wurde am 7. Juni im Anker-Haus eröffnet, ein Seeländer Bauernhaus, das seit mehr als einem Jahrhundert praktisch unverändert geblieben ist.
Inmitten eines mit Primeln bepflanzten Gartens steht ein neues Ausstellungsgebäude aus Holz, das der Inser Architekt Marcel Hegg entworfen hat.
Dezent mit modernster Museumstechnik ausgestattet, fügt es sich in die ländliche Umgebung ein. Auf der angrenzenden Wiese weiden Schafe.
Das Forschungszentrum im Anker-Haus will einen Künstler lebendig werden lassen, der international tätig war, aber vor allem lokal lebte.
Bis zu seinen letzten 20 Lebensjahren verbrachte Anker die Winter in Paris und stellte regelmässig im Salon aus. Er war aber auch tief im Inser Landleben verwurzelt und porträtierte in seinen Werken zahlreiche Dorfbewohner:innen.
Er war zudem Mitglied des Kirchen- und Schulrats und des Männerchors. Seine Frau Anna war weniger begeistert und fand das Leben in Ins zu eng; sie habe darauf bestanden, eine Wohnung in Neuenburg zu behalten, sagt Schneuwly.
Eine Zeitkapsel
Das 1803 von Alberts Grossvater Rudolf erbaute Haus blieb über sieben Generationen im Besitz der Familie Anker. Sowohl er als auch sein Sohn Samuel Anker waren Tierärzte; die Tiere, die sie behandelten, wurden in einem Stall im Erdgeschoss untergebracht.
Albert Anker erbte das Haus 1860 und baute den Heuboden zu einem Atelier um. Nach seinem Tod 1910 erbte seine Tochter das Haus. Die Familie veränderte jedoch kaum etwas im Haus und liess die Möbel, die Küche und das Atelier, wie sie waren. So entstand eine Zeitkapsel des bürgerlichen Landlebens in der Schweiz um 1900.
Ausgestellt sind verschiedene Erinnerungsstücke: zum Beispiel ein lederner Schultornister, der Ankers Tochter Marie gehört hat und den sie auf einem Porträt in der Ausstellung des Kunstmuseums über der Schulter trägt, und ein Trachtenkleid, das seine Frau Anna aus Odessa mitbrachte.
Eine Bibliothek mit inzwischen 1200 Büchern in mehreren Sprachen zeugt von Ankers breit gefächerten Interessen – er interessierte sich für Politik, Bildung, Technik und Archäologie ebenso wie für Kunst. Ausserdem bewirtschaftete er einen Weinberg und produzierte daraus eigenen Wein.
Seine Malerei mag, wie van Gogh schrieb, «alte Schule» gewesen sein, aber sein soziales Engagement brachte Albert Anker an die Spitze seiner Zeit.
Die Ausstellung im Kunstmuseum BernExterner Link ist eine Kooperation mit dem Centre Albert AnkerExterner Link im Haus des Künstlers in Ins, das im Juni eröffnet wurde. Das Atelier kann auf Anfrage besichtigt werden.
Auch die Fondation Pierre Gianadda in Martigny zeigte kürzlich eine Ausstellung über Ankers Kinder (bis 30. Juni).
Editiert von Virginie Mangin und Eduardo Simantob, Übertragung aus dem Englischen: Christian Raaflaub
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