Die wiedergefundene Identität des Schweizer Films
Die 42. Solothurner Filmtage, die jährliche Werkschau des Schweizer Films, sind am Sonntag zu Ende gegangen. Sie zeigten, dass 2006 ein Spitzen-Filmjahrgang war.
Über diesen Aufschwung hat sich swissinfo mit dem Franzosen Serge Sobczynski unterhalten, einem der Organisatoren des Filmfestivals von Cannes.
Letztes Jahr hatte Serge Sobczynski in der Cannes-Reihe «Tous les cinémas du monde» dem Schweizer Filmschaffen einen Tag gewidmet. In Solothurn gehörte der Franzose zur Jury, welche am Mittwoch die Schweizer Filmpreise vergab.
swissinfo: Wie kam es, dass Sie letztes Jahr in Cannes den Schweizer Film ehrten, der ja in den letzten Jahren kaum mehr Beachtung gefunden hatte?
Serge Sobczynski: Das Programm, für das ich verantwortlich bin, macht ein Fenster auf alle Sparten des Kinos auf, das Grosse ebenso wie das Unbekannte. Mein Interesse gilt eher dem Kino, das Grosses hervorgebracht hat, aber heute etwas vergessen ist.
Ich erhielt Informationen über eine neue Dynamik, vor allem des Deutschschweizer Films, aber ich hatte keines dieser Werke gesehen. Verantwortlich waren aber auch die Umstände: Das Festival Locarno erhielt eine neue Leitung, ebenso die Filmabteilung im Bundesamt für Kultur in Bern.
Die neuen Leute mit ihren neuen Standpunkte interessierten mich, also wollte ich selber schauen, was in der Schweiz passiert.
swissinfo: Wie reagierte das Publikum in Cannes auf die Schweizer Filme?
S.S.: Der Saal war voll, wir mussten Besucher abweisen. Das war eine grosse Überraschung, eine wahre Entdeckung. Weil wir auch Österreich eingeladen hatten, dachten die Besucher wohl, dass die Filme ähnlich sein würden. Während das österreichische Kino aber Ausdruck einer nationalen Depression ist, konnten die Zuschauer feststellen, dass das für das Schweizer Kino überhaupt nicht zutrifft. Schweizer Kino bringt Dramen hervor, ohne in ein permantes Drama zu verfallen.
swissinfo: Nicolas Bideau, der neue Chef des Schweizer Films beim Bund, hat «Qualität und Popularität» zum Leitmotiv erklärt. Sind da auch Werke mit Tiefgang möglich?
S.S.: Ich sehe schon einen Tiefgang: Den Ausdruck und die Bestätigung eines veritablen Schweizer Geistes, namentlich in den Drehbüchern. Schweizer Kino gleicht keinem anderen, nicht dem österreichischen, nicht dem deutschen, und nicht dem französischen.
Es ist ein spezifisches Kino, versehen mit einer Prise Selbstironie, Ironie sowie exzellenten Drehbüchern. Ich behaupte, dass ich heute bei einem Film sofort die «Schweizer Handschrift» erkenne, ohne dass ich weiss, woher der Film kommt.
swissinfo: In den 1960er- und 1970er-Jahren war das Schweizer Kino mit Godard, Tanner, Soutter und Goretta international auf dem Höhepunkt. Danach verschwand der Schweizer Film in der Versenkung. Weshalb?
S.S.: Grosse Meister finden nicht immer sofort ihre Nachfolger, dazu braucht es Zeit. Es gab aber auch Desinteresse. Genau dies wirkt heute aber stimulierend auf das Schweizer Filmschaffen.
Diese Gleichgültigkeit ist vielleicht ein positiver Antrieb, weil die damaligen Schweizer Filmgrössen alles Grenzgänger mit internationaler Ausstrahlung waren. Die heutige Cineasten-Generation ist wieder stärker dem Land verhaftet.
Die künstlerischen Leistungen sind immer Früchte dialektischer Situationen, von Spannungen, und genau das passiert heute.
swissinfo: Zum Schluss: Welcher Film hat Sie besonders berührt?
S.S.: Unter den Nomininationen für den Schweizer Filmpreis 2007 hat mir «Vitus» von Fredi M. Murer besonders gefallen. Unvergessen bleiben wird mir auch «Verflixt verliebt» von Peter Luisi, eine aussergewöhnlich turbulente Geschichte, gespielt von hervorragenden Darstellern. Genau das ist es, was ich am Kino liebe.
swissinfo-Interview, Bernard Léchot in Solothurn
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Künzi)
45’000 Zuschauer besuchten die 256 Filmvorführungen und Diskussionen, die im Rahmen der 42. Solothurner Filmtage stattfanden. Diese dauerten vom 22. bis 28. Januar.
Nachdem Fredi M. Murers Film «Vitus» am Mittwoch den Schweizer Filmpreis 2007 erhielt, gewann er am Samstag auch den erstmals verliehenen Publikumspreis.
Der Franzose war lange Zeit Leiter von nationalen Theatern und Orchestern.
Vor 15 Jahren stieg er in die Kulturpolitik ein. Er war kultureller Berater des französischen Botschafters in Israel und Direktor des Kulturrates der französischen Region Provence-Côte d’Azur.
Daraus erwuchsen Kontakte zum Filmfestival in Cannes, das Sobczynski 2005 mit der Leitung der Reihe «Tous les cinémas du monde» betraute.
Die Schweiz war am 23. Mai 2006 Gast dieser Festivalreihe.
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