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Die wundersame Reise des Harald Szeemann

Harald Szeemann legt bei der Vorbereitung für eine Performance Hand an. Museo d'arte Mendriso

Ein von Ideen sprühender Vulkan, ein anarchistischer Denker, aber vor allem ein Verliebter in die Kunst. Mit Harald Szeemann, Kurator und Schaffer von international bekannten Ausstellungen, im Kunstmuseum Mendrisio auf die Reise gehen.

Nur von kurzer Dauer, aber vielleicht gerade deshalb ein Juwel, das man nicht verpassen sollte.

Die Ausstellung, jenem Kurator gewidmet, den sogar die Vereinten Nationen (UNO) als grossartigen Ausstellungsmacher bezeichneten, ist nur noch bis am 8. Februar offen.

Fast ein vergängliches Stelldichein, hängend in der Zeit, das Harald Szeemann gefallen hätte; ihm, der ein seltener Vogel in einer durchorganisierten, undurchsichtigen und verknöcherten Welt war.

Ein von Obsessionen Besessener, die in seinem Archiv im Tessiner Dörfchen Maggia direkt spürbar wurden, zwischen Bergen von Aufzeichnungen, inmitten unzähliger Kisten von «Villa Jelmini», seinem bevorzugten Merlot, die überquollen von Notizen, Dokumenten, Zeitungsausschnitten, Korrespondenzen und Heften.

Eine Welt aus Papieren und Dokumenten, von denen auch das kleinste und unwichtigste Fitzelchen ein Mosaikstein in einem der Kunst gewidmeten Leben darstellte.

«Harald wusste zu Lieben», betont seine Ehefrau Ingeborg Lüscher. Um es nach einer Pause zu wiederholen und anzufügen, wie wenn es nicht schon klar genug gewesen wäre: «Harald wusste zu Lieben, er liebte die Kunst, er liebte die Künstler. Es war eine Welt der totalen Liebe, beinahe masslos und unglaubwürdig.»

Es war auch eine Liebesgeschichte, die Szeemann in den Südschweizer Kanton Tessin brachte, wo er eine sehr wichtige Periode seines Lebens verbrachte: Die Schaffung des Museums Casa Anatta auf dem Monte Verità, wo er bis zu seinem Tod 2005 in Locarno gearbeitet hat.

Eine Fahrt, dreizehn Stationen

Die Ausstellung, die vom Museumsdirektor Simone Soldini zusammen mit Szeemanns Assistentin Gianna Ruepp konzipiert wurde, zeigt Plakate, Modelle, Objekte, Videos, Projektionen, Kataloge, Fotografien, Briefe, Korrespondenzen und Notizbücher.

Eine Art wissenschaftliche Reise durch die Erinnerung, die es schafft, die physische Präsenz Szeemanns spürbar zu machen.

Unter dem Titel «Harald Szeemann – die wundersame Reise» (Il viaggio meraviglioso) zeigt die Ausstellung Dokumente zu dreizehn herausragenden Messen, um die Aktivität des «Königs der Kunstausstellungen» zu illustrieren.

So wird den Besuchenden eine privilegierte Möglichkeit gegeben, einen Einblick in die wesentlichen Momente der fruchtbaren kulturellen, künstlerischen und menschlichen Experimente von Szeemann zu erhaschen.

Ein innovativer und zuweilen rebellischer Geist, der seit den 1960er-Jahren die Art und Weise revolutioniert hat, wie Kunstausstellungen konzipiert, organisiert und inszeniert werden.

Frei von institutionellen Verpflichtungen

Zur Inszenierung der Ausstellung wurde das Kunstmuseum Mendrisio vom persönlichen Archiv Szeemanns in Maggia sowie seinem Museum auf dem Monte Verità unterstützt.

«Harald Szeemann war eine sehr komplexe und mysteriöse Figur, die nicht um Missverständnisse und Polemiken herumkam», sagt Simone Soldini gegenüber swissinfo.ch.

«Seine extrem persönliche Art, ein Kulturevent oder eine Ausstellung zu konzipieren, wurde nicht immer verstanden. Und trotzdem wusste Szeemann in seiner Arbeit immer die vertikale Dimension, das heisst, jene der Zeit, und die horizontale, verbunden mit dem Wissen und Bewusstsein, einzubinden.»

Szeemann hat in der Welt der zeitgenössischen Kunst einen markanten Fussabdruck hinterlassen. «Chaotisch und gleichzeitig sehr ordentlich, spiegeln die weitverzweigten Aktivitäten seine enorme Neugier und Offenheit», erklärt Soldini. «Frei von Vorurteilen in seinem Zugang zur Kunst und in seiner Ausdrucksweise.»

Gewandt im Umgang und frei von institutionellen Verpflichtungen, ein Freidenker, beseelt und getragen von originellen und persönlichen Theorien, schuf Szeemann wegweisende Ausstellungen.

Weil aber seine Vorgehensweise nicht kopiert werden kann, bleibt er ein Unikum in der Welt der Kunst. Wie seine «subversiven» Kreationen, darunter die wegweisende Documenta 5 in Kassel (1972), die Ausstellung Visionary Switzerland in Zürich (1991) und die Dauerausstellung in der Casa Anatta, le mammelle della verità.

Das Museum der Obsessionen

Die sprühende und vielseitige Persönlichkeit, leidenschaftlich aber teilweise auch kantig, spiegelt sich in ihren Arbeiten, ihren Reflexionen, ihren Merkwürdigkeiten wie beispielsweise dem Wunsch, ein Museum der Obsessionen zu schaffen.

In der Mitte der Ausstellung in Mendrisio, wo das Archiv von Maggia mittels riesigen Fotografien zum Leben erweckt wird, sticht einem folgendes Zitat ins Auge: Projekt und Aufgabe fürs Leben: Das Museum der Obsessionen.

Und dieses virtuelle Museum definierte er präzis: «Es spiegelt den Wunsch für einen Ort, auch wenn er nicht fassbar ist, wo man sich an Energien, die im Unsichtbaren operieren, erinnern und sie sammeln, diese beurteilen und dann sichtbar machen kann.»

Schritt für Schritt die mentale Weltkarte des Harald Szeemann abzuschreiten, ist wie seine Lektion: unmöglich zu folgen. Doch die Ausstellung in Mendrisio hat den Vorzug, dass sie es möglich macht, auf eine Art dieses Oxymoron, diesen Kontrast zwischen der zerbrechlichen Welt der Ideen und der Realität, bewohnt von Gedanken und geplanten und realisierten Projekten, sichtbar und zugänglich zu machen.

(Übertragen aus dem Italienischen: Christian Raaflaub)

Am Rande der Ausstellung wurde ein umfangreiches Buch von Tobia Bezzola, Konservator am Zürcher Kunsthaus, und Roman Kurzmeyer vorgestellt: Harald Szeemann with by trough because towards despite.

Das Werk befasst sich mit der Biografie und dem professionellen Leben Szeemanns und mit seinen Rollen als Kunsthistoriker und Ausstellungsmacher.

800 Seiten Texte, Fotografien und Dokumente erzählen das Leben des «Königs der Ausstellungen» chronologisch, von Ausstellung zu Ausstellung.

Es beginnt 1957, als Szeemann in St. Gallen Malende Dichter inszenierte und in Bern Hugo Ball eine Ausstellung widmete.

In seiner Rolle als Direktor der Kunsthalle Bern kuratierte er verschiedenste prestigeträchtige Ausstellungen, darunter die revolutionäre When attitude becomes form von 1969 mit Künstlern wie Beuys, Serra, Paladino und Immendorf.

Diese Ausstellung veränderte das Konzept eines Museums als Ausstellungsort zum Ort des künstlerischen Prozesses.

Nach seinem von einer Polemik begleiteten Abgang aus der Kunsthalle Bern arbeitete er als Freelancer und schuf so das Modell des unabhängigen Ausstellungsmachers, der frei von institutionellen Zwängen arbeiten kann.

Szeemann, 1933 in Bern geboren, zog 1974 nach Tegna im Tessin, wo er 1978 eine geschichtliche Ausstellung auf dem Monte Verità ob Ascona inszenierte. Zweimal leitete er die Biennale in Venedig (1999 und 2001).

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