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Direkte Demokratie beim Filmschaffen

Mitglieder des Schweizer Parlaments im Publikum der 55. Solothurner Filmtage, 2020
Bei einer Testvorführung zählt nur das allgemeine Publikum – Filmprofis und andere Fachleute haben kein Mitspracherecht: Der Schweizer Kulturminister Alain Berset (Mitte) bei der Eröffnung der Solothurner Filmtage im Kreis des Organisationskomitees, Politikerinnen und Politiker sowie Schweizer Medienschaffender. Das Schweizer Filmfestival führte in seiner letzten Ausgabe im Januar 2022 eine Sektion mit Testscreenings ein. Keystone / Peter Klaunzer

Im Rahmen von Testscreenings werden Filme immer öfter kurz vor ihrer Fertigstellung gezeigt. Die Reaktionen des Publikums beeinflussen die definitive Version des Films. Was halten Schweizer Regisseur:innen von dieser Praxis?

Wer ein Fan der Horrorfilm-Reihe Scream ist, hat wahrscheinlich eine Schwäche für Dewey Riley, den von David Arquette gespielten Polizeibeamten. In allen fünf Scream-Folgen ist er Teil der Besetzung. Dabei hätte er eigentlich am Ende der ersten Folge sterben sollen.

Wie ist das möglich? Während der Dreharbeiten hatte Regisseur Wes Craven eine Vorahnung, dass diese Figur den Zuschauer:innen gefallen würde. Daher drehte er eine zusätzliche Szene, in der Riley am Leben blieb.

Die Szene sollte für den Fall verwendet werden, dass die Zuschauerreaktionen bei Testscreenings dafür sprechen würden, diese Figur auch in den folgenden Episoden beizubehalten. Und genau das ist passiert.

Das ist eine der berühmtesten Geschichten im Zusammenhang mit Testscreenings, einer gängigen Praxis in der Filmindustrie, vor allem in Hollywood. Diese Praxis kann zu allen möglichen Änderungen bei einem Film führen: Es kann sich dabei auch um so einfache Dinge wie eine Änderung des Titels handeln oder die Platzierung eines Witzes.

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Das Testen von Filmen kommt ausserhalb der Vereinigten Staaten immer mehr in Mode. So gab es bei den jüngsten Solothurner Filmtagen im Januar 2022 erstmals eine Sektion TestscreeningExterner Link. Ziel dieser Übung war es, die Reaktionen des Publikums auf einen Film zu testen, der Teil der Sektion Fokus war.

Es handelt sich um eine Sektion, die sich mit allgemeinen, nicht unbedingt schweizerischen Themen befasst. Der Titel des Films wurde nicht bekanntgegeben, genauso wenig wie dessen Erscheinungsdatum.

swissinfo.ch erhielt keinen Zugang zur Testvorführung, da die Solothurner Filmtage vorgeschrieben hatten, dass nur Personen ohne Bezug zur Filmbranche den Streifen sehen konnten. Die Karten wurden unter dem Filmtage-Publikum verlost. Dies inspirierte uns jedoch dazu, Schweizer Filmschaffende nach ihrer Meinung zu dieser in der Schweiz immer beliebter werdenden Praxis zu fragen.

Timing ist alles

Viele Filmschaffende haben wenig überraschend geantwortet, dass Testscreenings beispielsweise für eine Komödie von entscheidender Bedeutung sein können, etwa für die genaue Platzierung eines Witzes.

Der Tessiner Alberto Meroni, der derzeit das Drehbuch für die Fortsetzung des 2017 erschienenen Erfolgsfilms Frontaliers Disaster schreibt, schätzt das Feedback des Publikums bei Testscreenings sehr.

Alberto Meroni, Regisseur
Hat Publikumsreaktionen ausgewertet: Regisseur Alberto Meroni. Alberto Meroni

«Ich habe immer Testscreenings meiner Filme gemacht, und im Fall von Frontaliers Disaster haben wir eine Vorführung einen Monat vor dem Kinostart organisiert, um das Timing der Gags und den Pegel des Tons zu prüfen.» Auch danach fertigte Meroni noch mehrere Versionen des Films an, bevor er schliesslich mit dem Ergebnis zufrieden war.

«Wir haben drei Wochen lang daran herumgebastelt», sagt Meroni. «Alle paar Tage schickte ich den Kinobetreibern ein neues DCP (Digitale Cinema Package). Ich schlich mich dann in die Vorführungen und beobachtete die Reaktionen der Zuschauer:innen. Der fünfte Schnitt war der definitive, besser gesagt der fast endgültige: Für den Kinostart in Italien wurde der Film zusätzlich überarbeitet, da einige Witze über Schweizer Prominente im Ausland nicht verstanden würden.»

Je voller der Saal, desto lauter das Lachen

Eine Angelegenheit zum Lachen war auch der Film Die fruchtbaren Jahre sind vorbei, den Regisseurin Natascha Beller 2019 auf der Piazza Grande von Locarno als Premiere präsentierte. In dieser Komödie – ihrem Spielfilmdebut – geht es um die schrägen Anstrengungen einer Frau, schwanger zu werden, bevor sie 35 Jahre alt wird. Denn die biologische Uhr tickt.

Während der Postproduktion zeigte die Regisseurin einen Rohschnitt in einer Test-Vorführung («Der Schnitt war vielleicht zu 80 bis 90 Prozent fertig.»). Das Testpublikum bestand ausschliesslich aus Personen, die sie nicht kannte. «Wir hofften so, dass das Feedback der Zuschauer:innen unvoreingenommen sein würde.»

Rückblickend wünscht sich Beller, sie hätte mehr als ein Testscreening gemacht, denn die einmalige Aufführung reicht ihrer Meinung nach nicht, um die komödiantischen Stärken und Schwächen eines Films richtig einschätzen zu können. «Die Leute neigen beispielsweise dazu, lauter zu lachen, wenn der Saal voll ist», beobachtete Beller bei Aufzeichnungen der Schweizer Late-Night-Fernsehshow Deville.

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Mehrere Vorführungen

Eine wichtige Änderung vor der definitiven Version galt dem Titel, der ursprünglich Ü30 («Über 30») lautete. Dies war beim Testpublikum auf gemischte Reaktionen gestossen und veranlasste den Verleiher zu der Bemerkung, dass er Zuschauer:innen unter 30 und über 40 abschrecken könnte.

Frau
Natascha Beller am 72. Internationalen Filmfestival Locarno, 11. August 2019. Keystone / Urs Flueeler

Die Filmschaffende plant, die Erfahrung mit einem Testscreening bei künftigen Projekten zu wiederholen. «Wenn es das Budget erlaubt, würde ich mehr als eine Vorführung mit einem grösseren Publikum in verschiedenen Städten machen», schreibt sie in einer E-Mail-Antwort auf Fragen von swissinfo.ch.

Im Fall von Azor, dem gefeierten Finanzthriller von Andreas Fontana, der in Argentinien spielt, gab es während der Postproduktion mehrere Vorführungen. Die Vorführungen begannen mit einer Kerngruppe von «Testenden», darunter der Regisseur selbst, der Cutter, die beiden Schweizer Hauptproduzenten und der künstlerische Berater des Films.

Dann wurden nach und nach weitere Personen hinzugezogen, wobei der Schwerpunkt auf Zuschauer:innen lag, die keine Verbindung zur Filmindustrie hatten. «Wir mussten abschätzen, wie verständlich der Film ist, denn er ist sehr dicht aufgebaut», sagt der Regisseur.

Eines der Testscreenings erwies sich als entscheidend für die Hauptfigur des Films. «Wir zeigten eine Vorabversion im City Club von Pully – einem Städtchen bei Lausanne. Es war eine Vorführung für Freunde und Familie, kaum ein halbes Dutzend Leute», erinnert sich Fontana.

Regisseur spricht vor dem Publikum an der Berlinale
Der Schweizer Regisseur Andreas Fontana spricht vor der Vorführung seines Films Azor an den 71. Internationalen Filmfestspielen Berlin, 2021. Keystone / Stefanie Loos

«Am Ende dieser Vorführung wurde uns klar, dass wir der Hauptfigur einen schlechten Dienst erwiesen hatten: Er wirkte zu schwach, zu sehr von den Ereignissen bedrängt, was ihn nervig und nicht gerade geheimnisvoll machte», so Fontana.

«Also gingen wir alle seine Auftritte im Film durch. Das waren eine Menge, weil er in jeder einzelnen Sequenz vorkommt. Schliesslich passten wir den Film an, indem wir einen Drittel der Aufnahmen, in denen er vorkommt, herausnahmen und alternative Einstellungen verwendeten.»

Vox populi

Fontana erwähnt auch einen wichtigen Unterschied zwischen der Vorführung des Films vor normalem Publikum und vor Fachleuten: «Letztere neigen dazu, Lösungen anzubieten, die auf ihrem eigenen Geschmack und ihren eigenen Wünschen beruhen. Menschen ohne Bezug zur Filmindustrie geben ein allgemeines Feedback, beschreiben eher die Symptome als die Ursachen. Es liegt dann an uns, herauszufinden, wie sich ein bestimmtes Problem beheben lässt.»

Schliesslich erzählt Regisseur Elie Grappe, dass er gegenüber Testscreenings skeptisch eingestellt war, vor allem in Bezug auf die Fragebögen, die das Publikum ausfüllen musste («Ich fand es einen ziemlich klinischen Ansatz.») Am Ende aber schätzte er die Reaktionen auf eine Vorführung des Films Olga, der in einer fast vollständigen Fassung einer Schulklasse gezeigt wurde.

«Wir hatten noch zwei Wochen Postproduktion vor uns, und wir haben oft auf die Fragebögen zurückgegriffen. Diese bestätigten einige Elemente, die wir unbedingt beibehalten wollten, und offenbarten einige Schwachstellen», sagt Grappe.

«Es macht auch Spass, zu sehen, wie Testzuschauer:innen manche Passagen als Fehler bezeichnen, die wir ändern oder ganz entfernen sollten, obwohl es sich dabei um wichtige Elemente des Films handelt. Offenbar wurden diese nicht als solche erkannt. Das war bei der Verwendung von Archivmaterial der Fall. Im Lauf des Schnitts haben wir dann die richtige Balance gefunden.»

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