Sprengt die Alpen!
Jammern, Leiden, Suhlen: Die Stabilität der Schweiz weckt seit Generationen auch negative Reaktionen. Manche spielten mit dem Gedanken, die Alpen zu sprengen. Andere glaubten, die Sicherheit sei Gift für Kunst. Aber vielleicht schafft die Langweile auch Reibungsfläche?
Im Film «Der Dritte Mann» sagt Orson Welles› Charakter, dass Italien unter den Borgias «Terror, Mord und Blutvergiessen» erlebt und dabei «Michelangelo, Leonardo da Vinci und die Renaissance» hervorgebracht habe.
In der Schweiz hingegen hätten langer Friede und «brüderliche Liebe» bloss die «Kuckucksuhr» hervorgebracht.
Nicht mal die Kuckucksuhr
In Wahrheit ist nicht mal die Kuckucksuhr aus der Schweiz, doch die Schweiz funktioniert weitgehend verlässlich wie ein Uhrwerk. Sie ist ein kleines Land und als solches oft abseits des Weltgeschehens. Daran haben sich Intellektuelle, Künstler:innen und die bewegte Jugend in der Schweiz immer wieder abgearbeitet.
Sie empfanden das Land «als Museum, als europäischen Kurort, als Altersasyl, als Passbehörde, als Tresor, als Treffpunkt der Krämer und Spitzel, als Idylle», wie die Autorengruppe «Achtung: Die Schweiz», der auch Max Frisch angehörte in den 1950ern.
Intellektuelle beklagten die Enge und Langeweile und spielten gar mit dem Gedanken, die Alpen zu sprengen, wie Carl Spitteler bereits im 19. Jahrhundert.
Der einzige Schweizer Literaturnobelpreisträger überlegte sich, wie es wäre, «den Gotthard mit allen Alpen mit Dynamit in die Luft zu sprengen», damit die Schweiz «direkt italienische Luft» bekäme.
Dieselbe Forderung hörte man im 20. Jahrhundert auf der Strasse: «Nieder mit den Alpen – freie Sicht aufs Mittelmeer!» war die Parole der Jugendbewegung in den 1980ern.
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Im heissen Sommer 1980, als Zürich brannte
Es sind vor allem Männer, die sich seit Generationen regelrecht im Leiden an der Stabilität und der Langeweile in der Schweiz gesuhlt haben.
Stabiles Land, stabiles Geld, stabile Lebensentwürfe: Im internationalen Vergleich läuft vieles rund in der Schweiz.
SWI swissinfo.ch befasst sich in dieser Serie mit dem Vertrauen in Institutionen, dieser Grundlage für funktionierende Demokratien.
Wir gehen der Frage nach, wo die historischen Ursachen dafür liegen, dass für einige in der Schweiz Langeweile das grösste Problem ist, wie es um das Vertrauen in der Gegenwart bestellt ist – und welche Stolpersteine auf die Schweiz zukommen.
«Volk von Brüdern ohne Schwestern»
Eine Gesellschaft, die Frauen bis 1971 keine politischen Rechte einräumte, brachte sie auch kaum je in die Position, über das Land als Ganzes zu urteilen.
Wenn sie es doch taten, war es eng verknüpft mit politischen Forderungen: Die Feministin Iris von Roten sah die Schweiz in ihrem 1958 erschienen Werk «Frauen im Laufgitter» als «Volk von Brüdern ohne Schwestern».
In der Männerdemokratie erlebte von Roten «das Schweizerkreuz im (…) Alpenrosenkranz» als Symbol für «einen Verrat an der Idee der Demokratie».
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Iris von Roten im Strauhof: Wut und Mut einer Feministin
1970, während die Studentenbewegung der 68er auch in der Schweiz des Kalten Kriegs ihren Widerhall fand, die Diskussion über die Schwarzenbach-Initiative die verbreitete Fremdenfeindlichkeit offenlegte und die Frauen noch immer nicht wählen durften, war Paul Nizon in schöngeistigen Sphären.
Der Kunstkritiker und Schriftsteller befasste sich mit der Frage, ob es in der Schweiz genug Störendes gibt, um kreativ zu werden. «Berühmte Schweizer» hätten «die Schweiz hinter sich gelassen, abgestreift.»
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Für grosse Kunst zu «bäurisch»
Denn für grosse Kunst sei das Land zu klein, die Täler zu eng und zu «bäurisch» das Volk in der Schweiz. Diskriminierung benennt Nizon keine, im Gegenteil anerkennt er die «demokratische Vielgestaltigkeit» des Landes, das aber laut dem Schriftsteller «kulturell eher sparsam» ausgekommen ist.
Nizon sagte vor wenigen Jahren im Interview mit dem Deutschlandfunk, er habe lange gemeint, die einzige Sprache zwischen den GeschlechternExterner Link sei die «geschlechtliche Liebessprache».
Bereits im «Diskurs in der Enge» offenbarte er einen sehr männlichen Blick auf die Welt: Eine grosse Kunst sei in der Schweiz deshalb nicht entstanden, weil sich das Land «das Weltgeschehen und damit in der Konsequenz die Geschichte vom Leibe hält».
Grosse Kunst braucht Katastrophen – wie es Orson Welles› Filmfigur auch behauptet hat.
Ironischerweise blieb der «Diskurs in der Enge» Nizons wirkungsvollster Text. Das Auswandern verhalf seinen Romanen, die er ab 1977 in der Wahlheimat Paris schrieb, nicht zu Wirkung.
Gehen oder bleiben?
Gehen oder bleiben? Andere Schriftsteller, die im Land geblieben sind, haben sich eben genau an der Mässigung, den Normen und den Kleinheit der Schweiz gerieben: Friedrich Dürrenmatt, Max Frisch, Otto F. Walter.
Doch auch deren Leiden an Langeweile der Schweiz nahm ab und an groteske Züge an. Dürrenmatt hielt 1990 eine Laudatio auf Vaclav Havel. Havel war damals letzter Staatspräsident der Tschechoslowakei, nachdem er dem sowjetkommunistischen Regime Widerstand geleistet hatte. In der Schweiz wurde ihm der Gottlieb-Duttweiler-PreisExterner Link verliehen.
Dürrenmatt widmete Havel und seinem Engagement in der Rede zwar auch einige Absätze, aber für eine Laudatio zielte sie am Geehrten vorbei: «Die Schweiz – ein Gefängnis» war der Titel.
Dürrenmatt erzählte dem «lieben Havel» von echten Gefängnissen, die Schweizer Militärdienstverweigerer damals erwarteten: «(…) Auf den politischen Dienstverweigerer» fällt «die ganze Strenge des Gerichts, wie es auf Sie in der Tschechoslowakei fiel».
So hob Dürrenmatt die Schweiz auf die Weltbühne, bevor er das Land als Ganzes zum Gefängnis erklärte.
Die Schweizer:innen leben in einem Gefängnis und würden sich dabei frei fühlen, «weil sie nur im Gefängnis sicher sind, nicht überfallen zu werden». Damit sie gleichzeitig frei und im Gefängnis sein können, seien sich die Schweizer:innen auch selbst Wärter:innen.
Dies sagte Dürrenmatt, der selbst ein halbes Jahrhundert von der Bundespolizei bespitzelt worden ist, unter Eindruck des Fichenskandals.
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Odysseus wäre Schweizer
Die Laudatio mündet ins Beschreiben eines Schweizer-Gemüts, das seine stabile Umgebung bewahren will. «Was sind wir Schweizer für Menschen? Vom Schicksal verschont zu werden ist weder Schande noch Ruhm, aber es ist ein Menetekel», also eine Warnung für drohendes Unheil.
Wie genau das gemeint ist, bleibt offen. Zum Schluss erzählt Dürrenmatt eine Parabel: Nach dem anstrengenden Leben habe Odysseus vor der Wiedergeburt «allen Ehrgeiz aufgegeben» und «das Leben eines zurückgezogenen, geruhsamen Mannes gesucht».
Odysseus, war sich Dürrenmatt sicher, «wählte das Los, ein Schweizer zu sein».
Dürrenmatt argumentierte politischer als Nizon. Doch auch er schien es zu kennen: das Leiden an der langweiligen Schweiz. Und das Thema bewegt Literat:innen bis heute.
Schein und Sein
Zum Beispiel die Autorin Martina Clavadetscher, die dieses Jahr die «Schweizer Literaturvorlesung» an der Universität St. Gallen gehalten hat. Die Innerschweizerin ist unter anderem Gewinnerin des Schweizer Buchpreis 2021 und hat in St. Gallen geschildert, wie sie sich schreibend gegen die Enge wehrt, in der sie aufgewachsen ist.
Clavadetscher hat «die 80er- und 90er-Jahre am Vierwaldstättersee, vor dem wirklich umwerfenden Panorama des Urnersees» zugebracht.
Hinter der herausgeputzten Oberfläche hat Clavadetscher aber eine andere Welt wahrgenommen. Vieles sei in der dörflichen Umgebung unausgesprochen geblieben – die Suizide von Jugendlichen ebenso wie rassistische Übergriffe.
«Der Schein muss sauber sein, das Sein kann dreckig bleiben.» Bis heute reibe sie sich daran auf.
«Die Schweiz besitzt eine seltsame Art der Selbstbetrachtung. Eine zögerliche, feige Art», erklärt Clavadetscher. «Eine anerzählte Angst dominiert. Wer viel hat, hat viel zu verlieren. Und wer sich bewegt, könnte etwas Schlechtes hervorrufen. Veränderung ist heikel. Höchstens Wiederholung ist erlaubt.»
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Martina Clavadetscher gewinnt Schweizer Buchpreis 2021
In Grunge- und Punkmusik fand Clavadetscher als Jugendliche jene «gesungene Wut, die mit der Wucht eines Vorschlaghammers Löcher schlug in die goldene, helvetische Fassade».
Und im Schreiben fand sie ein eigenes «Bekenntnis zum Widerstand». Um wenigstens «gedanklich eine ehrlichere Version des Jetztzustandes erfinden».
Sie sehe «sehr viel Schönheit» in gewissen Traditionen, aber verabscheut «die ewig gleiche Version einer Sache». Wiederholung ist langweilig.
Die Langeweile als Feindin und Freundin
Doch in dieser Langeweile ist Clavadetschers Drang nach «Unentdecktem, Unerzähltem, noch Unerlebtem» gewachsen. Und nun kann sie sie auch nutzen: «Die Langeweile ist meine Feindin. Es gilt sie zu bekämpfen. Und die Langeweile ist meine Freundin. Wenig motiviert mich so hartnäckig, eine neuere, spannendere Version der Realität zu erfinden.»
Die Schweizer Langeweile galt den Grossautoren des 20. Jahrhunderts als Vernichter von Schaffenskraft und Kreativität. Dabei kann sie auch Raum für andere Welten schaffen.
Das war vielleicht schon immer so: Wer sich als Spielerei überlegen kann, die Alpen zu sprengen, lebt ein Leben, in dem echte Explosionen sehr unwahrscheinlich sind.
Editiert von David Eugster
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