Dürrenmatt: schwierige Annäherung an ein Monument
20 Jahre nach seinem Tod lebt Dürrenmatts Ruf von den “Evergreens“. Sein Spätwerk bleibt weitgehend unentdeckt. Nach dem Debakel am Theater Basel sei Dürrenmatt vom Feuilleton zur Persona non grata erklärt worden, sagt sein Biograph Peter Rüedi.
Unzählige Bücher und CDs stehen in seinem Arbeitszimmer alphabetisch geordnet in den Regalen. Seit bald 20 Jahren schreibt Peter Rüedi an einer Biographie über Friedrich Dürrenmatt. Im Herbst 2011 wird der erste Teil erscheinen.
“Der erste Grund bin ich selber“, sagt er auf die Frage, wieso die Biographie nicht längst fertiggestellt sei, lacht und seufzt: “Dürrenmatts Nachlass umfasst 37 Laufmeter Manus- und Typoskript. Mindestens einen Teil davon musste ich sichten.“ Dazwischen habe er als Journalist gearbeitet und anschliessend “wieder neu in den Stollen einsteigen“ müssen.
Mit “Stollen“ meint Rüedi das “Universum Dürrenmatt“. Dieser interessierte sich schon sehr früh für Astronomie, Philosophie und Theologie und hat sich später ernsthaft mit Mathematik, Physik und Kosmologie befasst. “Er war natürlich kein Naturwissenschafter, aber er hat sich ernsthaft mit so handfesten Dingen wie der Systemtheorie auseinander gesetzt.“
“Um festzustellen, wo er flunkert, wo er sich sozusagen aus diesen Wissensbereichen nur metaphorisch für seine Zwecke bedient, müssen Sie sich bis zu einem gewissen Grad selber ein Bild erschaffen von all diesen Sachverhalten. Ich bin ja kein Mathematiker und schon gar kein Theologe.“
Rebellion gegen den Vater
Dazu komme als weitere Schwierigkeit, dass Dürrenmatt “sein Privatleben nicht auf einem Tablett vor sich hingetragen“ habe. “Zumal er seit dem Ausbruch seines Weltruhms versucht hat, seine Familie abzuschotten. Er hatte immer eine grosse Scheu vor Intimität, seine Ästhetik war eine Ästhetik der Distanz.“
Als Pfarrersohn, also als “Sohn im Quadrat mit einem leiblichen Vater als stellvertretende Instanz des ‘Vater unser‘“, habe der junge Fitz sehr schnell eine Obsession gegen seinen Vater entwickelt, so Rüedi: “Dürrenmatt erlebte eine ausserordentlich lange und chaotische Pubertät.“
Dabei sei sein Vater “keineswegs ein tyrannischer Schriftgelehrter“, sondern ein Mann von grosser Toleranz“ und ein Anti-Nazi gewesen. Die Rebellion gegen den Vater sei so weit gegangen, dass Dürrenmatt für einige Monate Kontakte zu einer frontistischen Studentengruppe gehabt habe.
Die Schweiz – ein Gefängnis
Anfang 1946, kurz nach Kriegsende, beschloss Dürrenmatt nach einem abgebrochenen Studium an der Universität in Zürich, “alle Brücken zu einem bürgerlichen Erwerbsleben abzubrechen und Schriftsteller zu werden, ohne dass er ein Werk vorzuweisen“ gehabt hätte. Zu dieser Zeit heiratete er die Schauspielerin Lotte Geissler.
In seinen ersten Werken verarbeitet Dürrenmatt das sektengeprägte Ambiente des heimatlichen Emmentals und seine Erinnerungen an den Krieg. “Eine seiner Obsessionen während des Kriegs war die Vorstellung, in dieser verschonten Schweiz eingeschlossen zu sein. Also, dass der Ort der Verschonung gleichzeitig ein Gefängnis ist. – Das ist genau die Thematik, die ganz am Ende seines Lebens in der berühmten Havel-Rede wieder auftaucht“, sagt Rüedi.
Die Wende zum Reichtum
Weltweit bekannt wurde er 1958 als Dramatiker mit dem “Besuch der alten Dame». «Dürrenmatt war ein grosses Leihgenie. Er hat auch in den Jahren davor nie unter seinen finanziellen Nöten gelitten», sagt Rüedi. Die Wende zum Ruhm und damit zum Wohlstand liessen sich genau festmachen.
«Nach der französischen Erstaufführung der «Dame», sagte Dürrenmatt seinem deutschen Verleger, er brauche dringend 20’000 Franken. Dieser fragte verwundert, wie und wann der Schweizer Verleger denn abrechne. Als Dürrenmatt in Basel aus dem Zug stieg, stand sein Schweizer Verleger mit einem Riesen-Blumenstrauss am Bahnhof und teilte ihm mit, dass sich sein Guthaben nun auf 60’000 Franken belaufe. Das war die Wende.»
Fall aus Abschied und Traktanden
1969 übernahm Dürrenmatt zusammen mit Werner Düggelin die Direktion der Basler Theater. «Dürrenmatt hatte sich so etwas erhofft, wie ein eigenes Theater, so wie Brecht es in Berlin hatte. Nur: Berlin hatte zu Brechts Zeiten rund 30 Theater. Da mochte es ein Theater ad personam gut ertragen. Basel war ein Vierspartenbetrieb und das einzige grosse Theater in der Stadt. Also musste man auch Produktionen einstreuen, die man mit der linken Hand und zur Erfüllung des Abonnements machte und konnte nicht nur stringente Ästhetiken durchziehen. Das konnte der Fritz nicht begreifen», sagt Rüedi.
Basel war das damals die Nummer eins unter den deutschsprachigen Theatern in Europa. Düggelin, mit dem sich Dürrenmatt verkracht hatte, war ein Liebling des Feuilletons. Nach dem Debakel mit der Ko-Direktion sei Dürrenmatt » bei den deutschen Grossfeuilletons ausser Abschied und Traktanden gefallen und zur Persona non grata erklärt worden», sagt Rüedi. Dazu habe auch beigetragen, dass er sich damals öffentlich für Israel engagiert habe.
Der Pointenlieferer
Dürrenmatts Weltruhm basiere «auf ganz wenigen Werken». Seine späten «Stoffe» und seine Altersprosa seien gar nie richtig zur Kenntnis genommen worden. Das habe eine gewisse Tragik.
«Seine Berühmtheit in den 1980er-Jahren fusste auf seinen alten ‹Evergreens›, wie er sie nannte. Sie war ausserliterarischer Art, denn es war eine Berühmtheit bei einem Publikum, das gar nicht zu seinen Lesern zählte. Dürrenmatt war berühmt durch seine unzähligen Interviews und seine pointierten Stellungnahmen zu Tagesfragen, denn es fiel ihm zu allem eine Pointe ein.»
Dürrenmatt habe bis zu seinem Tod jeden Tag diszipliniert geschrieben, gezeichnet oder gemalt, erzählt Rüedi, der Dürrenmatt während Jahren gekannt und mit ihm etliche lange Gespräche geführt hat.
Den Widerstand überwinden
“Auch nach einer durchzechten Nacht, war er spätestens morgens um neun wieder an der Arbeit. Der Alkohol hat ihn nie an der Arbeit gehindert. Er hat auch die Auffassung vertreten, dass sein Diabetes, an dem er seit Jahrzehnten litt, und der Anfälle von Müdigkeit und von Verstimmungen zu Folge hatte, für seine Arbeit förderlich sei. Er betrachtete die Krankheit als Widerstand, den er überwinden musste. – ‘Wenn ich keinen Diabetes gehabt hätte, wäre ich an meiner Gesundheit schon längst verreckt‘, sagte er mir beim letzten Gespräch, zwei Wochen vor seinem Tod.“
war Dramaturg an verschiedenen europäischen Theater, Ressortleiter Kultur bei der Weltwoche und arbeitet seit 20 Jahren als freier Autor.
Die Idee, eine Biographie über Dürrenmatt zu schreiben, entstand kurz vor dessen Tod. Im Herbst 1990 plante die Weltwoche eine Artikelserie zum 70. Geburtstag von Dürrenmatt.
Gleichzeitig einigten sich Dürrenmatt und Rüedi darauf, dass dieser eine Biographie über Dürrenmatt schreibe und zwar aufgrund von dessen Schilderungen über sein Leben.
Zwei Wochen vor Dürrenmatts Tod am 14. Dezember 1990 trafen sich die Beiden zu einem ersten Gespräch.
Aus der Artikelserie zum 70. Geburtstag wurde ein mehrteiliger Nachruf in der Weltwoche. Der erste Teil der Biographie wird im Herbst 2011 im Diogenes Verlag erscheinen.
1921: 5. Januar: Friedrich Dürrenmatt wird als Sohn eines protestantischen Pfarrers in Konolfingen, Kanton Bern, geboren.
1941-1946: Studium der Literatur und Philosophie an den Universitäten Bern und Zürich.1946: Heirat mit der Schauspielerin Lotti Geissler.
1947 Übersiedlung nach Basel.19. April: Uraufführung von Es steht geschrieben in Zürich.
1948 10. Januar: Uraufführung des Dramas Der Blinde in Basel.Umzug nach Ligerz am Bielersee.1949: 23. April: Uraufführung der Komödie Romulus der Große in Basel.1950-1951: Der Roman Der Richter und sein Henker erscheint in Fortsetzungen in der Zeitschrift Der Schweizerische Beobachter.
1952: Umzug nach Neuenburg.
26. März: Uraufführung der Komödie Die Ehe des Herrn Mississippi in München. 1956: 29. Januar: Uraufführung der tragischen Komödie Der Besuch der alten Dame in Zürich, die in den kommenden Jahren u. a. in Paris (1957), New York (1957) und Mailand (1960) gespielt wird. Die Erzählung Die Panne erscheint, die Dürrenmatt im Auftrag des Bayerischen Rundfunks zu einem Hörspiel umarbeitet.
1968: Beginn der Theaterarbeit in Basel, die Dürrenmatt aber nach Differenzen mit der Direktion und schwerer Krankheit im Oktober 1969 wieder aufgibt. 1969-1971: Mitherausgeber der neuen Zürcher Wochenzeitung Sonntags-Journal.
1977: Verleihung der Ehrendoktorwürde der Hebräischen Universität Jerusalem.1981Der Prosatext Stoffe I-III erscheint.1983: Tod seiner Frau Lotti. Verleihung der Ehrendoktorwürde der Universität Zürich.1984: Heirat mit der Filmemacherin, Schauspielerin und Journalistin Charlotte Kerr.
1990: 14. Dezember: Dürrenmatt stirbt an den Folgen eines Herzinfarkts in Neuenburg.
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