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«Eigentlich gehöre ich zu den Toten im KZ Bergen-Belsen»

ältere Frau auf Sofa
Katharina Hardy am 24. Februar 2020 in Zürich. Annette Boutellier

Die Musikerin Katharina Hardy hat zwei Konzentrationslager überlebt, 1956 flüchtete sie mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern aus Ungarn in die Schweiz. Über ihre Erfahrungen im Holocaust hat sie jahrzehntelang geschwiegen. 

Katharina Hardy kann man nicht beschreiben, ihre Ausstrahlung, ihre Energie; diese Zugewandtheit. Man muss sie erleben, um Sätze zu verstehen wie diesen: «Bergen-Belsen ist meine Heimat.» Sie war eine der letzten Zeitzeuginnen des Holocausts in der Schweiz, am 5. August 2022 ist sie in Spiez gestorben.

Ihr Leben? Sie gliederte es in drei Abschnitte. Der erste: 1928 in Budapest geboren, mit sechs Jahren begann sie Geige zu spielen. Eine Kindheit in Budapest, zunehmend vergiftet durch unverhohlenen Antisemitismus, auf der Strasse wurde sie angespuckt, mit elf aus der renommierten Franz-Liszt-Musikakademie ausgeschlossen, «weil ich Jüdin bin». 

Dann die Deportation in zwei Konzentrationslager: Ravensbrück und Bergen-Belsen. Katharina Hardy war 16 Jahre alt und wog 29 Kilo, als britische Soldaten sie fanden, die einzige Überlebende in der Baracke.

Der zweite Abschnitt, April 1945 bis zum Einmarsch der sowjetischen Truppen in Ungarn 1956. Ihre Geige war noch da, als sie im August 1945 zurück nach Budapest kam, aber kaputt, demoliert von «russischen Soldaten». Eine amerikanische Hilfsorganisation gab ihr eine neue. 

Alte Fotos von zwei Mädchen
Fotografien von Katharina Hardy und ihrer Schwester (am Klavier). Annette Boutellier

Sie begann wieder zu üben, täglich, wie besessen. «Ich war ein anderer Mensch, nicht mehr diejenige, die man verschleppt hatte. Ich kam zurück und sagte, das ist alles nicht wahr, was ich erlebt habe. Es gab nur noch die Arbeit.» Nachts im Traum sassen die Mutter und die Schwester an ihrem Bettrand, jahrelang. «Das war das Nachtleben. Tagsüber existierte das alles nicht.» 

Der dritte, längste Abschnitt, begann 1956 mit der Flucht aus Ungarn über die Grenze nach Österreich, zu Fuss durch den Schnee mit ihrem Mann und zwei kleinen Kindern, drei und vier Jahre alt. Sie flohen vor den sowjetischen Truppen, den Panzern in Budapest. 

Dort, wo sie schliesslich hinkamen, Regensdorf im Kanton Zürich, wusste niemand, dass sich hinter dieser Fluchtgeschichte noch eine andere verbarg: «Ich habe fünfzig Jahre lang geschwiegen.» Niemand wusste von jenem anderen Teil in ihr, der immer da ist, «an jedem einzelnen Tag». Sie sagt: «Ich bemühe mich, ein normales Leben zu führen, mich anzupassen. Aber für mich ist dieses normale Leben lächerlich. Weil die Leute nicht wissen, was alles sein könnte, was alles möglich ist.» 

Perfekt sein

Sie sitzt am Küchentisch und rückt eine Kaffeetasse zurecht. Die Tasse steht auf dem falschen Unterteller, demjenigen, der für das Gebäck gedacht ist, Katharina Hardy tauscht die Teller aus, «es muss alles seine Ordnung haben». 

Sie erträgt es nicht, wenn die Ordnung im Kleinen durcheinandergerät, wenn die Gläser oder die Pfannen nicht dort stehen, wo sie hingehören, «millimetergenau», sie wird dann sehr schnell sehr aufgebracht. Ein nächster Satz bricht vorzeitig ab: «Wenn ich auch da keine Ordnung mehr habe…» 

Sie schweigt. Stellt Kekse auf den Tisch, selbstgebackene. Was sie macht, das tut sie ganz: «Man muss perfekt sein. Man sollte immer versuchen, seine Aufgaben perfekt zu lösen.» Halbheiten lässt sie nicht durchgehen. Sie ist unerbittlich, auch wenn sie Geige unterrichtet. Fehler lässt sie nicht gelten. 

illustration: Antisemitismus

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Was sie von sich selbst und von andern fordert, hat einst ihre Mutter von ihr verlangt: kompromisslose Disziplin. Die Mutter, selbst nicht Musikerin, trimmte ihre beiden Töchter – die ältere Piroska spielte Klavier, die sieben Jahre jüngere Katharina Geige. Auch in den Ferien, auf dem Land bei den Grosseltern: «Der Geigenlehrer oder ein Theorielehrer kam jeweils mit.» Einmal sagt Katharina Hardy: «Ich habe die Konzentrationslager auch wegen dieser Disziplin überlebt.»

Peitschensausen

Im November 1944 holten die ungarischen Pfeilkreuzler, die mit den Nationalsozialisten kollaborierten, Katharina und die Mutter aus der Wohnung. Auf der Strasse wimmelte es von Menschen, Jüdinnen und Juden, die zu einer stillgelegten Ziegelfabrik getrieben wurden. Drei Tage waren sie dort, dann begann der Marsch. 

120 Kilometer zu Fuss in der Kälte, es schneite. Sie übernachteten auf Fussballplätzen, draussen im Freien. Die Mutter schüttelte Katharina, damit sie nicht erfror. In einer Schiffswerft an der Donau gab es einen Halt, drei Tage unter katastrophalen hygienischen Bedingungen. Die Mutter erkrankte an der Ruhr. Zufällig trafen sie in der Werft nochmals auf den Vater, der schon vor ihnen deportiert worden war. 

Als sie weitermussten, war die Mutter bereits sehr schwach, sie konnte kaum noch gehen, Katharina zog sie hinter sich her. In der Festung Komárom in der Slowakei wurden sie in eine Zelle gesperrt. Auf dem Steinboden lagen Stroh und eine Decke. 

Hier zerfällt die Erzählung in Fragmente. Die Erinnerung ist scharf konturiert, aber sprechen darüber? Kurze, wie zufällig hingeworfene Sätze, innere Bilder, mit Worten angetippt. Die Mutter liegt auf dem Stroh, schwer krank. Sie möchte Milch trinken, Katharina streift ihr den Ehering vom Finger, nimmt ihren ganzen Mut zusammen, geht zu einem Aufseher; gibt ihm den Ring. Er bringt ihr ein Glas Milch, ein einziges. 

Dann das Geräusch einer sausenden Peitsche, Soldaten treiben Katharina weg. Das letzte, was sie die Mutter noch sagen hört, ist die Adresse ihres Bruders, Katharinas Onkel, in New York. Schon auf dem Marsch hatte die Mutter ihr wieder und wieder diese Adresse eingetrichtert, «ich weiss sie bis heute auswendig». 

Noch einmal dreht Katharina sich um, «die Mutter weinte nicht». Sie weiss, dass sie die Mutter nicht retten, ihren Tod nicht hätte verhindern können. Aber was, wenn sie dennoch geblieben wäre? «Ich mache mir bis heute Vorwürfe.» 

«Normal war der Tod»

Sie kam in das Konzentrationslager Ravensbrück, zwei Monate, Januar, Februar 1945, dann nach Bergen-Belsen. Sie erzählt nicht, was sie in den beiden Konzentrationslagern gesehen, erfahren hat. Aber sie beschreibt sehr genau, was das, was sie dort erlebte, mit ihr machte, wie es sie, ihre Wahrnehmung, verändert hat. 

Im Konzentrationslager, sagt Katharina Hardy, seien die Vorzeichen vertauscht gewesen: «Normal war nicht das Leben. Normal war der Tod.» Die tagtägliche physische Präsenz des Todes, die Leichen am Boden, die ständigen Erschiessungen – Leben war die Ausnahme. Das, sagt Katharina Hardy, habe sie geformt wie sonst nichts. 

Ihre Sicht auf das Leben und den Tod für immer umgekehrt. «Ich sehe die Welt nicht so, wie andere sie sehen. Eigentlich gehöre ich zu den Toten in Bergen-Belsen. Ich gehöre dorthin, wo ich am stärksten geprägt worden bin.»

Als britische Soldaten am 15. April 1945 Bergen-Belsen befreiten, lag sie mit angewinkelten Beinen auf dem Boden, konnte nicht aufstehen, die Beine nicht strecken. Sie konnte nicht schlucken, nicht essen: «Ich war seit Wochen in einem Dämmerzustand.» Sie kam in ein Lazarett. 

Im Juni 1945 hatte sie sechs Kilogramm zugenommen, sie wog nun 35. Auf einer Liste mit den Namen von Überlebenden fand sie den Namen ihres Vaters – sie traf ihn in Budapest wieder. «Es war das einzige Mal, dass ich den Vater weinen sah.» Sie zogen in die alte Wohnung zurück. Eine Mauer fehlte, es war eiskalt, «wir hatten kein Geld, um sie wieder aufzubauen». 

Als sie die neue Geige bekam, begann sie zu üben. Sie übte, trotz der Kälte, mit klammen Fingern. «Als ich zurückkam nach Budapest war ich ein anderer Mensch, mit einer unglaublichen Seele. Ich hatte eine umgekehrte Welt gesehen. Es gab keinen Gott, es gab gar nichts. Nur die Arbeit und vorwärts. Total hart. Und diese Härte habe ich halt behalten.» 

Später in ihrer Biografie hat sie dem Tod ein ungeheures Mass an Leben abgerungen. Eine Karriere als Musikerin, eine grosse Familie: drei Kinder, fünf Enkel-, drei Urenkelkinder. Viele sind Musiker geworden wie sie, ein Sohn, zwei Enkel, eine Enkelin: «Ich habe eine Musikerdynastie begründet.» Darauf ist sie stolz.

Katharina Hardy kann man nicht beschreiben, man muss sie erleben, um zu verstehen, dass diese beiden Sätze kein Widerspruch sind: «Es verlässt einen keine Sekunde.» Und: «Ich habe ein wunderschönes Leben. Irgendwie.» 

Bevor Erinnerung Geschichte wird. Überlebende des Holocaust in der Schweiz heute. 15 Porträts. Erschienen im Limmat-Verlag, 2022.Externer Link

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