Ein Archiv nach Mass für Historiker
Eines der fehlenden Kapitel in der Geschichte der Schweizer Auswanderung ist die Auslandschweizer-Organisation (ASO). Das anstehende 100-Jahres-Jubiläum wäre ein guter Anlass, dieses Kapitel zu schreiben. Besonders, da ein Archiv bereits besteht.
Gegenwärtig ist das historische Interesse am Thema Auswanderung gross. Forschungs-Anstrengungen in Sachen Auslandschweizer-Organisation (ASO) machen deshalb Sinn. Dazu kommt, dass sich zu dieser nichtstaatlichen Organisation für die Belange der Auslandschweizer bald ein ganzes Jahrhundert an aktiver Existenz gesellt.
Doch ist «bisher weder eine Entscheidung gefallen, noch liegt ein präzises Projekt auf dem Tisch», wie ASO-Direktor Rudolf Wyder gegenüber swissinfo.ch sagt. Seine Hoffnung verheimlicht er dennoch nicht, dass sich schon bald ein Historiker oder eine Historikerin an die Arbeit macht.
Noch eilt es nicht allzu sehr, denn die ASO wird erst in vier Jahren, 2016, ihr hunderjähriges Jubiläum feiern. Anderseits lässt sich ein ganzes Jahrhundert Aktivität nicht im Schnellverfahren durchackern. Deshalb hat die ASO ihr Terrain für die Forschung bereits etwas begradigt.
Kataloge fürs Gedächtnis
Zur Zeit ist ein junger Historiker am Fertigstellen der Archivierung der ASO-Dokumentation, damit sie ins Bundesarchiv überführt werden kann. Frisch von der Universität, hat Florian Baccaunaud seine Arbeit als Archivar am Hauptsitz der ASO in Bern Anfang Juni begonnen.
«Meine Arbeit erstreckt sich über die Jahre 1994 bis 2000. Die Dokumentation über die Jahre davor ist bereits archiviert und befindet sich schon im Bundesarchiv.»
Das Projekt laufe aber bereits seit einiger Zeit und sei in diverse Schritte aufgeteilt worden, sagt Wyder: «Es handelt sich um eine Arbeit, die in regelmässigen Abständen anfällt.» Der Umstand, dass die Hundertjahrfeier anstehe, motiviere zur weiteren Archivierung. Das erlaube es der Forschung, das Material so zu nutzen, um die Geschichte der ASO bis 2016 aufzuarbeiten.
Im Estrich des ASO-Gebäudes überprüft Baccaunaud Hunderte von Dokumenten. Er wählt aus, was behalten wird und klassifiziert auf Grund der Inhalte. Danach katalogisiert er die Dokumente in ein digitales Register.
Der Berg von Schachteln voller Papiere kann ihn nicht aus der Ruhe bringen. «Ein Archivar liest nicht jedes einzelne Dokument von Beginn bis zum Ende. Das wäre gar nicht möglich», so Baccaunaud. Man lerne schnell, welche Dokumente konserviert werden sollten und wie sie zu klassifizieren seien. «In Zweifelsfällen kann ich mich immer noch an die zuständigen Leute in der ASO oder im Bundesarchiv wenden.»
Quellen für verschiedene historische Thematiken
Die Dokumente umfassen alle Aktivitäten und Veranstaltungen der ASO, inklusive jene des Komitees für die Schweizer Schulen, des Auslandschweizer-Rats und des ASO-Kongresses.
Man bewegt sich dabei im Bereich von Protokollen über Reden, Programmen, Teilnehmerlisten bis zu vielem Anderen. Es gibt auch «Bordbücher» respektive handgeschriebene Berichte von Teilnehmenden an Feriencamps von Auslandschweizer-Kindern im Inland. Dazu kommen Zeitungsausschnitte, Fotos oder die gesamte Korrespondenz der ASO.
«Aus der Sicht des Historikers sind diese Dokumente sehr aufschlussreich. Sie zeugen von den ASO-Aktivitäten im Dienst der Schweizer im Ausland. Sie erlauben es, die Entwicklung zu betrachten, das Funktionieren der Institution zu verstehen und die wirkliche Rolle dieser Organisation einigermassen einzuschätzen», begeistert sich Baccaunaud.
Das Beschäftigen mit der ASO-Geschichte zeige einem auch, welches die Interessen und Sorgen der angehenden und bestehenden Auslandschweizer sowie der Rückwandernden seien, sagt Baccaunaud.
Er, der selbst der zahlenmässig grössten Auslandschweizer-Gemeinde, nämlich der französischen, angehört, weist auf die Relevanz der Beziehungen zwischen den Ausgewanderten und dem Bund hin: «Diese umfassen immerhin 10 Prozent der gesamten Schweizer Bevölkerung.»
In den Archiven finde man viel Korrespondenz von Auslandschweizern, die der ASO schreiben, so Baccaunaud. Sie erstrecke sich auf zahlreiche Gebiete: soziale, rechtliche, wirtschaftliche, politische und patriotische.
Vielen Ausgewanderten gehe es dabei nicht nur um ihre eigenen Anliegen. Sie möchten auch am Leben in ihrer Heimat teilnehmen oder sich für die Schweiz nützlich erweisen.
Wo liegt Genf?
Es gebe auch zahlreiche, sehr einfache Zeugnisse von Auslandschweizern, die mitteilten, was sie von ihrer kürzlich erfolgten Auswanderung denken. Erst gerade im Gastland etabliert, erzählten sie, wie sie dort als Auslandschweizer aufgenommen würden.
Baccaunaud findet auch Briefe voller Emotionen, einer gewissen Entfremdung von zuhause oder gar Einsamkeit. «So zum Beispiel der Brief einer Frau, die erst gerade in einem französischen Pyrenäendorf angekommen ist und erzählt, wie sie von ihrer Coiffeuse gefragt wurde, woher sie denn komme. Als sie auf Französisch geantwortet hat, Genève, verstand die Coiffeuse erst nicht recht. ‹Genève? Ach so, Sie meinen sicher Grenoble!'»
Auf einer völlig anderen Ebene, so Baccaunaud, spiele sich die Korrespondenz der ASO mit den Bundesbehörden ab. Da gebe es Anfragen, die Gesetzesänderungen, neue Regelungen oder Doppelbesteuerungs-Abkommen betreffen, welche die Schweiz mit Gastländern von Auslandschweizern unterzeichnet habe und bei denen es um ganz bestimmte Probleme gehe.
Im Dienst der Forschung
Alle diese Informationsquellen werden, rigoros katalogisiert, bald den Forschenden zur Verfügung gestellt. Baccaunaud bereitet sich gerade auf die letzte Phase seiner Arbeit als ASO-Archivar vor, die Anfang September beendet sein dürfte: Dann wird er alle ausgewählten Dokumente in Schachteln ins Bundesarchiv bringen. Dort werden sie die bereits bestehende ASO-Dokumentation vervollständigen.
Ein vollständig geordnetes und leicht zugängliches Archiv ist eher die Ausnahme als die Regel. Das Angebot der ASO ist deshalb besonders verlockend – nun ist die zu hoffen, dass die Historiker davon Gebrauch machen werden.
Seit Jahrhunderten ist die Schweiz ein Auswanderungsland. Doch ihr Interesse daran datiert erst seit dem Ersten Weltkrieg.
Das neue Interesse diente dem Zweck, aus simplen Auswanderern oder Emigranten, deren Schicksal die alte Heimat nichts mehr angeht, Auslandschweizerinnen und Auslandschweizer zu machen, die die Werte ihrer alten Heimat in die Welt bringen.
Um deshalb die Beziehungen zwischen dem Bund und den Auswanderern zu stärken, wurde 1916 die Auslandschweizer-Organisation (ASO) ins Leben gerufen.
Diese erhält den Kontakt über die Vereine in den einzelnen Ländern und repräsentiert sie in der Schweiz wiederum als Interessenorganisation.
Die ASO informiert und berät die Schweizer im Ausland und unterhält ein Service-Netz, das sich im Laufe der Jahre erweitert und ständig den Bedürfnissen angepasst wird.
Die ASO wird von den Behörden als Sprachrohr der Diaspora wahrgenommen. So ist sie ein Kompetenzzentrum für alle Fragen und Anliegen geworden, die die Fünfte Schweiz betreffen.
Heute umfasst diese Nichtstaatliche Organisation mit Sitz in Bern rund 750 Vereinigungen und Institutionen auf der ganzen Welt.
Zur Zeit leben rund 700’000 Schweizer im Ausland.
Florian Baccaunaud ist schweizerisch-französischer Doppelbürger. Geboren und aufgewachsen in Frankreich, Abschluss in Geschichte an der Universität Michel de Montaigne in Bordeaux.
Unschlüssig, ob er den Master nun in Geschichte oder politischer Kommunikation machen sollte, entschied er sich für eine «Reflexionspause».
Er sammelt nun in der Schweiz, wo er ebenfalls familiäre Bindungen hat, weitere Erfahrungen.
Anfang Juni hat er bei der ASO ein dreimonatiges Mandat als Archivar begonnen.
(Übertragung aus dem Italienischen: Alexander Künzle)
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