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Ein Dorf entdeckt Dürrenmatt

Der ländliche Mikrokosmos seines Heimatdorfs prägte Dürrenmatt. swissinfo.ch

"Ich bin kein Dorfschriftsteller, aber das Dorf brachte mich hervor", schrieb Friedrich Dürrenmatt in seinen autobiographischen "Stoffen". 18 Jahre nach seinem Tod ehrt Konolfingen den kritischen Zeitgenossen, der im Emmentaler Dorf aufwuchs.

Konolfingen, das Tor zum Emmental, liegt inmitten von Hügeln, die mit dunklen Tannenwäldern bedeckt sind, und Wiesen, auf denen stattliche Bauernhäuser stehen.

Dürrenmatt kam hier 1921 als Pfarrerssohn zur Welt. Allein eine kleine Gedenktafel an der Wand des Pfarrhauses, die ihm die Gemeinde zum 60. Geburtstag schenkte, erinnert daran. Das einzige Denkmal im Dorf, ein Brunnen, ist nicht Dürrenmatt, sondern dem Jodlerkönig Oskar Friedrich Schmalz gewidmet.

Nestlé präsenter als Dürrenmatt

Mehr Bedeutung als Dürrenmatt und sein schriftstellerisches Schaffen hat im Dorf eine wirtschaftliche Institution: der Schweizer Nahrungsmittelmulti Nestlé.

1971 hat Nestlé in Konolfingen ein Forschungs- und Entwicklungszentrum eingerichtet, und zwar in der ehemaligen Milchsiederei «mit ihrem Hochkamin, der mehr als der Kirchturm Wahrzeichen des Dorfes war», wie Dürrenmatt in seinen autobiographischen «Stoffen» bemerkte.

«Im Gegensatz zu Nestlé mit seinen rund 400 Arbeitsstellen ist Dürrenmatt hier etwas in Vergessenheit geraten», sagt der Konolfinger Regierungsstatthalter Ueli Zaugg.

Doch das soll sich nun ändern. 18 Jahre nach seinem Tod ehrt die Region den Emmentaler Literaten mit einem Dürrenmatt-Jahr. Bis im November finden Ausstellungen, Lesungen, Film- und Theatervorführungen statt, auch ein Literaturweg wurde angelegt.

«Will man die Region fördern, muss man auch kulturell etwas bieten», erklärt Zaugg, der im Patronatkomitee der Dürrenmatt-Kulturveranstaltungen sitzt, das plötzliche Fieber.

Es sei klar, dass im ländlichen Raum weniger Dürrenmatt-Fans zu finden seien. Doch mittlerweile hätten die Leute gemerkt, dass der weltbekannte Schriftsteller PR ist für Konolfingen.

«Ich habe nicht die gleichen Ansichten wie Dürrenmatt», sagt eine ältere Bauersfrau, die draussen am Brunnen den Salat wäscht. «Ich juble ihn nicht hoch.»

Dürrenmatt sei ein eigener gewesen, er habe im Dorf nicht nur Freunde gehabt, sondern sei auch angefeindet worden, sagt ein anderer Konolfinger.

Der Name Dürrenmatt sage ihr nicht viel, sagt die 15-jährige Anja. Sie glaube nicht, in der Schule je ein Buch von Dürrenmatt gelesen zu haben.

Nicht nur schöne Worte übrig

Dass Dürrenmatt im Emmental nicht nur auf Begeisterung stösst, ist nicht verwunderlich. Er war ein kritischer, ein unbequemer Zeitgenosse, der mit seinen Äusserungen zu Politik und Gesellschaft manch einen vor den Kopf stiess. Ein Nestbeschmutzer sei er, hiess es da und dort. Auch für sein Heimatdorf hatte Dürrenmatt nicht nur schöne Worte übrig.

Als «Emmentaler Kaff» hat Dürrenmatt Konolfingen in «Stoffe I-III» bezeichnet. Und damit nicht genug: «Das Dorf war hässlich, eine Anhäufung von Gebäuden im Kleinbürgerstil, wie man das überall im Mittelland findet», schrieb er weiter.

Aus seinen «Stoffen» geht jedoch hervor, wie sehr er trotz allem mit der Gegend verbunden war. «Schön waren die umliegenden Bauerndörfer mit den grossen Dächern und den sorgfältig geschichteten Misthaufen, geheimnisvoll die dunklen Tannenwälder ringsumher, und voller Abenteuer war die Ebene mit dem sauren Klee in den Wiesen und mit den gelben Kornfeldern, in denen wir umherschlichen», erinnert er sich.

Dürrenmatt beschreibt auch die Spaziergänge mit seinem Vater, den er zu den Predigten in die Nachbarsdörfer begleitete, und der ihm auf dem Rückweg von Herkules, Theseus und Minotaurus erzählte.

Lieber Friedhof als Schule

Der Friedhof diente Dürrenmatt als Spielplatz. Er richtete sich dort in den frisch ausgehobenen Gräbern «häuslich» ein, bis der herannahende Leichenzug ihn vertrieb.

Mehr Angst hatte Dürrenmatt, der kein besonders guter Schüler war, vor der Schule. Als «bösartigen Prügler, Klemmer und Haarzieher» beschreibt er etwa seinen Französisch- und Schreiblehrer.

Das «Kindergefängnis» habe «nach und nach» auch ihn «zur Strecke», das heisst zum Lesen gebracht. Mehr als Schulklassiker interessierten ihn Karl May, John Bunyans und die «verfemten» Romanhefte des Agenten John Kling. «Vom Lesebuch weiss ich nur noch, dass es rot eingebunden war», so Dürrenmatt lakonisch.

In Konolfingen begann Dürrenmatt mit Farbstiften auf der Rückseite von Todesanzeigen zu zeichnen und im Atelier des Dorfmalers malte er seine ersten Bilder mit Deckfarben, die nicht gerade typische Kindersujets zeigten: die Schlacht von Sankt Jakob an der Birs und die Sintflut.

Dürrenmatt sei kein Rädelsführer gewesen, wie manchmal in den Medien geschrieben werde. «Er war eher ein Einzelgänger», sagt seine Schwester, die 84-jährige Verena Dürrenmatt.

Geprägt von ländlichem Mikrokosmos

Der ländliche Mikrokosmos hat Dürrenmatt geprägt und das hat er auch nie verleugnet. «Ich glaube, dass alles Wichtige, alles Entscheidende sich auf die Jugend zurückführt», schrieb er.

Er kehre, wenn er male oder zeichne, stets in seine Kindheit zurück, «die einzige Rückkehr, die möglich ist – jene zur Schöpferkraft des Kindes».

Auf einem Plan, wo er seine Kindheit in Konolfingen skizzierte, findet sich insbesondere der Verweis «Alte Dame», darunter angefügt steht «Hediger-Stumpen». Die Millionärin diente ihm wohl als Vorlage für die unablässig rauchende Claire Zachanassian, Protagonistin seines berühmtesten Stücks «Der Besuch der alten Dame».

swissinfo, Corinne Buchser, Konolfingen

Der Schriftsteller, Dramatiker und Maler Friedrich Dürrenmatt wurde am 5. Januar 1921 in Konolfingen im Kanton Bern als Pfarrerssohn geboren. Als Dürrenmatt 14 Jahre alt war, zog die Familie nach Bern.

Aus dem Übersichtlichen habe er sich ins Unübersichtliche verirrt, erinnert sich Dürrenmatt in seinen autobiographischen «Stoffen». «Das Labyrinth wurde Wirklichkeit.»

Dürrenmatt studierte in Bern und Zürich deutsche Literatur und Philosophie. 1946 brach er das Studium ab und wurde Schriftsteller.

Das Stück «Der Besuch der alten Dame» (1956) machte ihn weltbekannt.

Seine Stücke werden zu den wichtigsten des deutschsprachigen Theaters der zweiten Hälfte des 20 Jahrhunderts gezählt.

Von 1952 bis zu seinem Tod 1990 lebte Dürrenmatt im Haus ob Neuenburg, wo sich heute das Centre Dürrenmatt befindet.

Dürrenmatt erhielt insbesondere den Grossen Preis der Schweizerischen Schillerstifung, den österreichischen Staatspreis für europäische Literatur und den Georg-Büchner-Preis.

Er starb am 14. Dezember 1990, wenige Tage vor seinem 70. Geburtstag.

1949 Romulus der Grosse, Komödie
1950 Der Richter und sein Henker, Kriminalroman
1951 Der Verdacht, Kriminalroman
1952 Der Tunnel, Kurzgeschichte
1956 Der Besuch der alten Dame, tragische Komödie
1958 Das Versprechen, Requiem auf den Kriminalroman
1959 Frank der Fünfte, Oper einer Privatbank
1962 Die Physiker, Komödie in 2 Akten
1981 Labyrinth. Stoffe I-III
1985 Justiz, Roman
1989 Durcheinandertal, Roman
1990 Turmbau. Stoffe IV-IX

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