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Ein Lebenstraum am Jakobsweg

50'000 Bände zur Architektur- und Kunstgeschichte in der Bibliothek Oechslin. (Erwin Dettling)

Auch im Zeitalter der Digitalisierung hat Werner Oechslin nie seinen Glauben an das gedruckte Buch verloren. Das Ergebnis der Standhaftigkeit lässt sich sehen.

Nach 40-jähriger Sammeltätigkeit steht in Einsiedeln die schmale Tür zur einer neuen Bibliothek offen, mit 50’000 Bänden zur Architektur- und Kunstgeschichte.

Seit Jahrhunderten gilt das in der Zentralschweiz gelegene Klosterdorf Einsiedeln als Ort der Einkehr und der Spiritualität. Das Benediktinerkloster beherbergte schon früh eine Bibliothek, ein «Scriptorium» mit religiösen Büchern von unschätzbarem Wert, das heute öffentlich zugänglich ist.

Die bibliophile Tradition des Klosterdorfes, das am Pilgerweg zum spanischen Wallfahrtsort Santiago de Compostela liegt, hat seine weltliche Entsprechung gefunden.

Der aus Einsiedeln stammende Kunst- und Architekturhistoriker Werner Oechslin hat im Verlauf von mehr als vierzig Jahren 50’000 Quellenwerke zur Architektur, Mathematik, Theologie, Astronomie, Philosophie und Metaphysik zusammengetragen.

Es handelt sich dabei um Schriften in Originalausgaben, die zum Teil mehr als 500 Jahre alt sind. Nach einer mehr als zehnjährigen Baugeschichte hat der Lebenstraum von Werner Oechslin in seinem Heimatdorf eine Behausung gefunden.

Vor ein paar Monaten wurde in Einsiedeln die Bibliothek Werner Oechslin eingeweiht. Für diese Leistung hat der Kunst- und Architekturhistoriker den mit 20’000 Franken dotierten Innerschweizer Kulturpreise für das Jahr 2007 erhalten.

Interdisziplinärer Forschungsplatz

Mit der Vergabe des Preises würdigt die Kulturstiftung von sechs Zentralschweizer Kantonen die Verdienste von Werner Oechslin um die einzigartige geistesgeschichtliche Quellensammlung, und sie ehrt ihn für die Errichtung der Bibliothek.

Den neuen Bau entwarf der renommierte Architekt Mario Botta. Die Zentralschweiz verfügt nun über einen Hort des Wissens, der interdisziplinären Forschung und über einen Ort der Konzentration und der kreativen Abgeschiedenheit.

Werner Oechslin versteht seine Bibliothek als Verlängerung der Geschichte durch das Gedächtnis (vita memoriae).

Der zweistöckige Bücherraum ist ein antizyklisches Manifest gegen die Virtualisierung der Welt: «Die Verlässlichkeit der virtuellen Tatsachen ist ungewiss. Man sehnt sich inzwischen wieder nach einer physischen, nach einer wirklichen Welt», schreibt Oechslin in einem Traktat zu seinem Lebenswerk.

Ein privater Bau für die Öffentlichkeit

Der von Mario Botta konzipierte zweistöckige Bibliotheksbau beginnt im Untergrund, mit einer Rotunde, die an ein Labyrinth erinnert.

Die Besucher sehen einen schmalen, bergseitig konvex gebogenen und zum Tal hin gradlinig abgeschlossenen Bau aus rötlichem Stein aus Verona.

Der Bibliothek fehlt die feierliche Geste, es dominiert das Private. Der Zugang liegt parallel zur historischen Achse zum Jakobsweg.

Die Nutzer der neuen Bibliothek finden die Bücher rundum auf zwei Geschossen, so wie in alten Klosterbibliotheken.

Signaturen und eine alphabetische Ordnung gibt es nicht.

Oechslin schreibt dazu: «Es ist kein Zufall, dass die Bücher zur modernen Theorie der Architektur in der Bibliothek über den Werken zur klassischen Architektur stehen. Die äussere Ordnung steht sinnbildlich für die innere, begriffen als Gedächtnisstütze und als Anregung.»

Bücher sind Instrumente für nachhaltiges Wissen

Buch, Bücherregal und Architektur sind in der Architekturbibliothek von Werner Oechslin eine Symbiose eingegangen.

Der Kunst- und Architekturhistoriker sieht in seiner Bibliothek mehr als die Summe ihrer Bücher. «Die Bibliothek ist insgesamt eine Wissensform», meint Oechslin.

Die neue Bibliothek von Werner Oechslin ist ein Ort für Denkökonomie. Mehr als 50’000 Bände hinterfragen den Optimismus der grenzenlos wachsenden digitalen Informations- und Wissensvermehrung.

Oechslin unterstreicht mit seinem in der Bibliothek materialisierten Lebenstraum die Grenzen und die Endlichkeit des menschlichen Aufnahmevermögens.

«Das Modell unendlich vieler Spezialisten mit je ausuferndem Detailwissen kann gegenüber dem Bedürfnis nach Zusammenhang und Übersicht allein nicht bestehen», meint der Kunst- und Architekturhistoriker.

Einsiedeln hat mit der Bibliothek Werner Oechslin eine neue und einzigartige Forschungs- und Kulturinstitution von internationaler Bedeutung erhalten. Zwischen der Bibliothek und der Eidgenössischen Technischen Hochschule (ETH) besteht ein Nutzungsvertrag.

Die neue Bibliothek steht nicht in Zürich, sondern im Hintergrund, am Jakobsweg nach Santiago de Compostela. Mancher Wanderer wird auf dem Weg zum spanischen Wallfahrtsort beim Bücherberg von Werner Oechslin in Einsiedeln Halt machen.

swissinfo, Erwin Dettling, Einsiedeln

Werner Oechslin (1944) ist Professor für Kunst- und Architekturgeschichte an der ETH, Zürich.

Im Laufe seiner akademischen Laufbahn hat er im In- und Ausland bedeutende Beiträge zur Architektur- und Kunstgeschichte publiziert.

Er will Kunst- und Architekturgeschichte interdisziplinär verbinden.

Der Professor aus Einsiedeln ist ein international gefragter Gesprächspartner für architektonische und politische Belange.

Palladianesimo, Teoria e prassi (Oechslin, Werner)

Die Kunstdenkmäler des Kantons Schwyz – Einsiedeln
(Oechslin, Werner und Buschow-Oechslin, Anja):

Band III/I: Das Benediktinerkloster
Band III/II: Dorf und Viertel Einsiedeln

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