Ein Schweizer Hafen für verfolgte Schriftsteller
Weltweit bieten Städte Autoren, die für ihre Meinungen verfolgt werden Schutz. Die Schweiz ist nicht Teil dieses Netzwerks. Deutschsprachige Autoren und die Stadt Genf wollen diesen Mangel nun beheben und präsentieren ihr Projekt im Rahmen der Literaturtage Solothurn.
Naeimeh Doostdar Sanaye war mit ihrem Baby und ihrem Ehemann in Kuala Lumpur, als sie erfuhr, dass sie die Stadt Malmö eingeladen hatte, mit ihrer Familie nach Schweden zu kommen und dort zu leben.
Ihre «Rettung» verdankt die Journalistin, Autorin und Menschenrechts-Aktivistin, die 2010 inhaftiert wurde, dem internationalen Netzwerk «Städte der Zuflucht» (ICORN).
Was Malmö der iranischen Autorin angeboten hat, kann keine Schweizer Stadt bieten, denn die Schweiz ist nicht im Netzwerk ICORN vertreten, das 44 Städte umfasst – von Tromsö (Norwegen) über Miami (USA), Mexiko City bis zur italienischen Toskana und der französischen Hauptstadt Paris.
Adi Blum, Musiker, Autor und Vorstandsmitglied des Deutschschweizer PEN-Zentrums, hält diese Abwesenheit für nicht vertretbar. «Die Schweiz ist stolz auf ihre humanitäre Tradition», sagt er. «Aber trotz ihres Reichtums ist sie nicht an ICORN beteiligt. Es schien uns offensichtlich, dass etwas getan werden muss.»
Am 7. November 1993 wurde in Strassburg, am Sitz des Europarats, das Internationale Schriftsteller-Parlament gegründet.
Auf Anregung seines damaligen Präsidenten Salman Rushdie entwickelte das Schriftsteller-Parlament 1994 das Programm «Städte der Zuflucht».
Bis 1998 gab es rund 30 Asylstädte für akut bedrohte Dichter, darunter die Schweizer Städte Bern und Lausanne.
Peter Schranz von der Abteilung Kulturelles der Stadt Bern erinnert sich, dass die Zweifel an der Qualität der Organisation im Lauf der Zeit immer stärker wurden.
«Der zweite Autor, den wir empfingen, war in seinem Heimatland nicht bedroht», sagt er. «Als die Organisation, die in Brüssel ihren Sitz hatte, uns bat, ihr das Stipendiengeld zu überweisen, damit sie eine zentrale Verteilung vornehmen könne, haben wir beschlossen, das Programm zu verlassen. Die Betreuung war jedenfalls lückenhaft.»
2006 wurde das Internationale Netzwerk der Städte der Zuflucht (ICORN) auf den Überresten dieser 2005 aufgelösten Organisation ins Leben gerufen. Das ICORN musste die schlechten Erfahrungen «wegwischen» und seine Professionalität unter Beweis stellen – und es wird dies weiterhin tun müssen.
Heute gehören dem ICORN weltweit 44 Städte der Zuflucht an. Die meisten befinden sich in Europa. Der Schriftsteller Russel Banks kümmert sich derzeit um die Entwicklung des Netzwerks in Nordamerika, wo es erst eine Stadt der Zuflucht gibt, nämlich Miami.
Bisher wurden 81 Autorinnen und Autoren vom Netzwerk unterstützt.
Diskussion in Solothurn
«Wir», das sind neben Adi Blum die Autorinnen Melinda Nadj Abonji und Ulrike Ulrich. Ende 2013 haben sie im Internet einen Appell für Mikrokredite lanciert. «Wir haben in 40 Tagen mehr als 6000 Franken gesammelt», freut sich Blum. «Das beweist, dass unser Projekt auf grosses Interesse stösst.»
Das Projekt wird am Freitag, 30. Mai, an den Literaturtagen Solothurn zur Diskussion stehen. Dazu hat das PEN-Zentrum den Schriftsteller Chenjerai Hove aus Simbabwe eingeladen, dem dank dem Städte-Netzwerk die Flucht aus seinem Heimatland gelungen ist.
Ein Dossier mit einem Budget wurde mehreren Städten und Stiftungen unterbreitet. Zürich hat darauf negativ geantwortet und begründet dies damit, dass das Residenz-Programm für Autoren einen Teil der Bedürfnisse verfolgter Schriftsteller abdecke. Auch Bern hat ein ähnliches Programm.
Luzern nicht abgeneigt
Luzern hingegen habe positiv reagiert, sagt Blum. Der definitive Entscheid ist laut der städtischen Kulturabteilung noch nicht gefallen. Das Budget könnte von einer Kulturstiftung zur Verfügung gestellt werden.
Neben dem Beitrag an ICORN (1500 Euro pro Jahr) muss Geld vorhanden sein, um eine Wohnung zu mieten, und es braucht eine Teilzeitstelle für die anfallenden Arbeiten.
«Wir müssen dem Schriftsteller im Alltag helfen, ihm im Kontakt mit den Behörden beistehen, Diskussionen und Lesungen organisieren. Wir gehen von einer 10-15%-Stelle aus, die es braucht, um diese Aufgaben zu koordinieren», sagt Blum, der von einem Budget von 136’000 Franken im ersten Jahr ausgeht.
Lektionen einer ersten Erfahrung
Das Deutschschweizer PEN-Zentrum und auch ICORN wollen die Fehler vermeiden, die vor Jahren zum Konkurs eines ersten Projekts für Zufluchtsstädte geführt hatten, das nach dem Bann gegen Salman Rushdie entstanden war. Rushdie ist ein britischer Schriftsteller mit indischen Wurzeln.
Das Projekt wurde schlecht verwaltet und hatte lediglich zehn Jahre Bestand. Die Stadt Bern hat damals zwei Schriftstellern Unterschlupf geboten, Lausanne einem einzigen.
Entstanden aus der Asche des gescheiterten Projekts, hat sich ICORN professionalisiert. Die Wahl der «Flüchtlinge» wird gemeinsam vom «Writers in Prison Committee» des PEN International vorgenommen. Das Komitee hat eine Liste von über 800 verfolgten Autoren.
Die Zusammenarbeit mit den Städten ist in einem Vertrag geregelt. Das Netzwerk unterstützt die Städte in ihren Bemühungen, aber es ist an den Städten, die Formalitäten für die Aufenthaltsgenehmigungen, Stipendien und Versicherungen zu erledigen.
Ein Standard-Aufenthalt dauert zwei Jahre. «Traumatisierte Menschen brauchen Zeit», sagt ICORN-Direktor Helge Lunde. «Ein Jahr ist schnell vorbei.»
Steigende Bedürfnisse
ICORN erhält jedes Jahr mehr Gesuche. «Wir brauchen mehr Städte, die mitmachen», sagt Lunde. «Doch die Qualität zählt und nicht die Quantität. Die Städte müssen gut vorbereitet sein.»
Die Schicksale jener, deren Aufenthalte zu einem Ende kommen, sind sehr unterschiedlich. «Einige kehren in ihre Länder zurück, andere erhalten Schutz in einer anderen Stadt», sagt Lunde. «Für die andern suchen wir innerhalb des Netzwerks nach einer Lösung. Aber die Schwierigkeiten sind gross, denn die Visa-Probleme nehmen nicht ab.»
Entscheid in Genf
Helge Lunde war kürzlich in Genf, wo vor einigen Jahren ein Projekt in Angriff genommen wurde. «Es wäre für uns sehr wichtig, wenn die Stadt Rousseaus Mitglied des Netzwerks würde», sagt er. Das Projekt würde im Geburtshaus von Rousseau untergebracht.
Das Rousseau-Haus, das sich bereits jetzt der Literatur widmet, plant eine Erweiterung seiner Aktivitäten. «Wir haben vorgesehen, die zwei obersten Etagen für Schriftsteller im Exil zur Verfügung zu stellen», sagt Isabelle Ferrari, die für das Dossier zuständig ist.
«Es wäre sehr wichtig für uns, dass sich Genf formell engagieren und dem ICORN-Netzwerk beitreten würde», sagt Ferrari. «Es geht nicht lediglich um das zur Verfügung stellen einer Wohnung, sondern auch darum, öffentlich dafür einzustehen, dass Genf seiner humanitären Tradition treu bleibt. Wir hoffen, dass Genf bis 2015 die erste Schweizer Stadt sein wird, die dem Netzwerk beitritt und damit für internationale Resonanz sorgt.»
Die Hoffnungen könnten Wirklichkeit werden, Sami Kanaan, der vom 1. Juni an Bürgermeister der Stadt Genf ist, will bis Ende des 2014 ein konkretes Projekt für die Mitgliedschaft bei ICORN vorlegen: «Es wäre fast absurd, wenn sich die Stadt der Menschenrechte an diesem Prozess nicht beteiligen würde», sagt er.
(Übertragen aus dem Französischen: Andreas Keiser)
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