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Ein US-Regisseur entdeckt die kuriose Seite der Schweiz

Ein Mann in Lederjacke und ein Plastikschweiz im Frack
Der amerikanische Künstler Andrew Norman Wilson bei sich zu Hause, mit amerikanischem Kitsch und Schweizer Kulturgut. zVg

Ruhm in der Kunstwelt führt nicht zu Reichtum, schlussfolgerte der zeitgenössische amerikanische Künstler Andrew Norman Wilson. Also beschloss er, die Kunst aufzugeben und stattdessen Filme zu machen – unter anderem in der Schweiz. Mit SWI swissinfo.ch spricht der US-Künstler über seine Begeisterung für Schweizer Kuriositäten.

Noch vor wenigen Jahren wäre es unvorstellbar gewesen, dass Andrew Norman Wilson über seine Besessenheit von Schweizer Kulturgütern spricht. Wilson ist amerikanischer zeitgenössischer Künstler, der vor allem für seine Faszination für amerikanischen Popkultur-Kitsch bekannt ist.

Doch dann nahm Wilson 2023 an einem Schwingfest in Zürich teil. Er war dort, um mit Samuel Giger zu sprechen, «dem vielleicht grössten Schwinger aller Zeiten», sagt Wilson.

Das jüngste Glanzstück des Künstlers ist ein 5000 Wörter umfassender Essay über seinen Ausstieg aus der Kunstwelt. Der Artikel erschien letzten April in der US-Kulturzeitschrift The BafflerExterner Link – und ging viral.

Zum Schwingfest sei er gegangen, sagt Wilson, weil er wollte, dass Giger eine Rolle in seinem nächsten Film spielt. Schwingen? Samuel Giger? Der grösste Schwinger der Schweiz?

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Kurz vor der Premiere seines Kurzfilms «Silvesterchlausen»Externer Link am Internationalen Filmfestival Rotterdam (IFFR) sprachen wir mit Wilson über seine Beweggründe, an einem Schwingfest teilzunehmen.

Zum ersten Mal hatte die Schweiz 2020 Wilsons Aufmerksamkeit erregt. Seither hat sie seine Karriere nachhaltig beeinflusst.

«Silvesterchlausen» ist sein jüngstes Werk: Fragmente der traditionellen Neujahrfeierlichkeiten im Kanton Appenzell; dort, wo die Grenzen der Schweiz, Deutschlands, Österreichs und Liechtensteins aufeinandertreffen.

Amerikanischer Kitsch als zeitgenössische Kunst

Zum Zeitpunkt unseres Gesprächs ist Wilson in Los Angeles. Er arbeitet gerade an einem hochkarätigen Musikvideo und schlägt sich mit den Mühseligkeiten institutioneller Finanzierung rum sowie dem aussichtslosen Unterfangen, das eigene Geld in ein Projekt zu investieren, ohne zu wissen, ob es sich später auszahlt.

Es war ein ständiger Kampf während seiner gesamten Karriere. Einer, den er in seinem giftigen Abschiedsbrief von der Kunstwelt ausführlich beschreibt.

Trotzdem glaubt Wilson noch immer, dass manche Projekte Erfolg haben können. In den letzten Jahren hat er seine Talente namhaften Musiker:innen wie dem Amerikaner Oneohtrix Point NeverExterner Link für den Dreh ihrer Videos zur Verfügung gestellt.

Dadurch hat er gelernt, sowohl als kommerzieller Produzent aufzutreten wie auch als eigenwilliger Künstler, der die Widersprüche seiner Themen durchdenkt.

Der Essay in The Baffler habe sein Leben verändert, sagt Wilson. Er sieht sich jetzt eher als Filmemacher und weniger als zeitgenössischer Künstler.

Dabei macht er schon seit Jahren Experimentalfilme. Zum Beispiel «Workers Leaving the Googleplex»Externer Link, eine Bestandesaufnahme des Google-Hauptquartiers, aber auch der Stimmung in den USA insgesamt im Jahr 2011. Für den Film hat ihn sein Auftraggeber Google gefeuert.

Danach beschäftigte sich Wilson mit dem kulturellen Schutt der amerikanischen Poplandschaft: mit Ikonen der Pop- und Subkultur wie dem Popstar Phil Collins, dem Baby-Dinosaurier SinclairExterner Link, Sci-Fi Imitatoren auf dem Hollywood-Boulevard oder einem Pikachu aus PappmachéExterner Link, der seine Tage in der Sonne auf einem Hochhausbalkon verbringt und langsam zerfällt.

Sein Film «In the Air Tonight», eine urbane Legende über den Phil Collins-Hit und eine unheimliche Reise durch das L.A. der 1980er-Jahre, wurde auf dem renommierten Sundance Film Festival gezeigt.

Auf die Treffen mit Amazon, Searchlight und anderen Studios aber sei er völlig unvorbereitet gewesen, sagt Wilson. «Ich gehöre nicht zur High-Society von Hollywood, ich dachte, ich würde niemals Zugang zu dieser Welt haben.»

Nach diesen Treffen schrieb er einen Kryptoraub-Film, von dem man ihm sagte, er sei als erstes Projekt zu teuer. «Aber dann hat mich eine andere Idee beschäftigt, über die ich gestolpert bin.»

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Eine Schweizer Offenbarung

Im Jahr 2020 strandete Wilson in der Schweiz. Er war für einen Künstleraufenthalt hier, es war der Höhepunkt der Pandemie, und Wilson konnte, wie alle anderen auch, das Land nicht verlassen.

Da seine geplante Europatournee auf Eis lag, beschloss er, Ausflüge innerhalb des Landes zu unternehmen. So kam er nach Interlaken.

Dort stiess er auf den Jungfraupark, den berüchtigten Vergnügungspark des Schweizer Schriftstellers und Verschwörungstheoretikers Erich von Däniken. Auf der anderen Seite des Brienzersees fand er den Ballenberg, das Freilichtmuseum für traditionelle Schweizer Kultur.

Der Ballenberg, so Wilson, sei eine idyllische Darstellung der Schweizer Geschichte. Dem gegenüber sei von Dänikens Park Ausdruck einer verschwörerischen Weltsicht: der von antiken Ausserirdischen, denen der Schriftsteller die Entstehung unserer modernen Zivilisation zuschreibt. 

Ein Mann, der sich freut und vier Wunderkerzen in den Händen hält
Erich von Däniken feierte 2010 seinen 75. Geburtstag. Der Schweizer Autor landete 1968 mit seinem Buch «Erinnerungen an die Zukunft» einen Bestseller. Dort behauptete er, dass Ausserirdische hinter den grossen Bauwerken der antiken Welt stecken. Seine Theorien wurden allesamt als falsch entlarvt. Karl-Heinz Hug

Endlich hatte Wilson etwas gefunden, mit dem er sich identifizieren konnte. «Ich war sofort fasziniert», sagt er. «Beide schienen Ausdruck der gleichen, rechten Ideologien zu sein, von denen ich zu jener Zeit in Amerika besessen war», sagt Wilson.

«Ballenburg ist ‹TradCath›Externer Link (traditionell katholisch) und bietet einen Rückzug in eine einfachere Vergangenheit, während von Dänikens Vision näher an [der rechtsextremen Bewegung] ‹QAnon›Externer Link ist.»

Die Begegnung inspirierte Wilson zu seinem ersten Versuch, einen Spielfilm zu drehen. «Interlaken» soll mit einer Starbesetzung und einem Budget von zwei Millionen Dollar im Jahr 2025 oder 2026 gedreht werden.

«Ich wollte, dass der Film in dem Schweizer Kitsch schwelgt, zu dem ich mich hingezogen fühlte. Der Film sollte mit diesen beiden Ideologien spielen und ergründen, wie sie sich zueinander verhalten», so Wilson.

Er hoffe, dass man den Film als «schweizerisch» bezeichnen könne – auch wenn er selbst, Wilson, zunächst durch die amerikanische Massenkultur wie Disney zur Schweizer Kultur gekommen sei. «Deshalb nähere ich mich ihr wie ein Fremder», sagt der Filmemacher.

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Die Anziehungskraft der Silvesterchlausen

Aus diesem Grund besuchte Wilson in diesem Winter das Eidgenössische Schwingfest in Zürich, an dem Samuel Giger auftrat. Er hoffte, dass der Schwinger eine der Hauptrollen in seinem Film spielen könnte.

Zwar sei der Film noch in der Entwicklung, sagt Wilson. «Aber wenn es klappt, habe ich ein gutes Gefühl, dass er der Rolle, die mir vorschwebt, gewachsen sein könnte.»

Dann aber stolperte Wilson plötzlich über ein anderes Thema. «Mitten im Spiel rannten Männer in seltsamen Kostümen auf die Bühne und fingen an zu jodeln und zu tanzen», sagt er. «Ich hatte keine Ahnung, was los war.»

Die Szene sei wie eine Halluzination gewesen. «Für alle anderen schien es einen Sinn zu ergeben, aber für mich war es ein verrückter Bruch in einem ansonsten sehr machohaften Spektakel.»

Schwingen sei kein kosmopolitischer Sport, so Wilson. Er vergleicht es mit dem Autorennen Nascar in den Vereinigten Staaten. Als er den Schwinger Giger am nächsten Tag traf, erzählte ihm dieser, dass Silvesterchlausen aus seiner Region, dem Appenzell, stamme und normalerweise nur an Neujahr stattfinde. «Mein Interesse war geweckt.»

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Sehr schnell war er von der Appenzeller Silvestertradition besessen. Er begann zu recherchieren und machte sich daran, einen Kurzfilm über eine der Silvesterfeiern zu drehen.

«Ich fühlte mich angezogen von der extremen Aufmerksamkeit, welche die Darsteller dem Handwerk widmen. Diese Tradition kommt aus dem konservativsten Teil der Schweiz», sagt Wilson.

«Diese Männer arbeiten in Bauernhöfen und Fabriken und verbringen Jahre damit, diese Kostüme zu entwerfen und herzustellen», so Wilson. «Und sie tragen sie nur zweimal im Jahr, es sei denn, sie werden zu einem Schwingfest eingeladen, was sehr selten vorkommt. Aber die Bande, die sie durch das gemeinsame Handwerk knüpfen, können Jahrzehnte überdauern.»

Beim Silvesterchlausen, so Wilson, gehe es um eine Investition von Zeit und Arbeit. «Die Schönheit dieser sehr machohaften, konservativen Männer, die diese sehr kunstvollen Kostüme herstellen, erschien mir ein grossartiges Rezept für einen Film.»

Zwei Männer in Anzügen aus Tannzweigen
«Silvesterchlausen» bereiten sich in Schwellbrunn darauf vor, den Bauern und Bäuerinnen der Region ihre besten Wünsche für das neue Jahr zu überbringen. Keystone / Gian Ehrenzeller

Die Schweizer DNA

Wilsons Film ist nur 12 Minuten lang. Doch er entfaltet sich wie eine trällernde Übermittlung aus einer anderen Dimension. Er zeigt die Zeremonien in Fragmenten, manchmal mit Infrarot gefilmt, manchmal in Zeitlupe, und fast ausschliesslich in Nahaufnahmen, die auf Details und Bewegung fokussieren statt auf eine objektive Sichtweise.

Schweizer Künstler:innen und Produzent:innen sind auf diesen amerikanischen Künstler aufmerksam geworden, der es sich zum Ziel gemacht hat, die exzentrischen und kantonsspezifischen kulturellen Traditionen der Schweiz mit dem Blick eines Aussenstehenden zu betrachten.

«Mehrere Leute haben dasselbe gesagt, etwa: ‹So sehe ich die Schweiz nicht’», sagt Wilson. Ein Schweizer Bekannter meinte, dass Wilsons Blick als Aussenstehender ihn erkennen liess, wie seltsam diese Dinge sind, die für Schweizer:innen einfach im Hintergrund verblassten.

Aber vielleicht ist die Schweiz doch nicht so weit von seinem Leben entfernt. «Letztes Jahr hat meine Mutter einen Gentest gemacht, und es kam heraus, dass wir auf eine Art und Weise sehr deutsch und schweizerisch sind, die wir vorher nicht verstanden haben», sagt Wilson. «Vielleicht ist meine Anziehung zu diesen schweizerischen kulturellen Ausdrucksformen in meiner DNA.»

Editiert von Virginie Mangin und Eduardo Simantob/ac, Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel

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