Eine Jodlerin, die neue Töne anschlägt
Die Jodlerin Nadja Räss ist eine typische Vertreterin der heutigen Crossover-Volksmusik-Szene. Sie fühlt sich auch wohl mit Jazz, hundertjährigen Jodel-Aufnahmen oder CEOs, denen sie die Kommunikation beibringt.
Räss stellt ihre Musik auf Traditionen ab, entwickelt aber auch ihren eigenen Jodel-Stil. Die Volksmusik sei gegenwärtig im Wandel, sagt sie: Kinder lernen in Lagern jodeln, das öffentliche Interesse an Volksmusik steigt, und Musiker gehen auf die Suche nach ihren Wurzeln.
Sie ist überzeugt, die Musik sollte offen sein gegenüber der Technologie, zwischen den einzelnen Sparten und sogar gegenüber historischen Aufnahmen, um «alte» Arten des Gesangs zu erlernen.
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Volksmusiker suchen Inspiration über Genregrenzen
swissinfo.ch: Wo stehen wir heute, wenn wir auf die letzten hundert Jahre Schweizer Volksmusik zurückblicken?
Nadja Räss: Wenn ich mir 80-, 90-jährige Aufnahmen anhöre, brauchten die Jodler offene Vokale, ganz andere Vokale als heute. Dann wurde der Eidgenössische Jodlerverband gegründet, der Regeln aufsetzte – zu viele Regeln.
Doch heute gibt es viele junge Leute in diesem Verband, und das bringt einen Wandel. Dieser geht allerdings sehr, sehr langsam vonstatten. Daher denke ich nicht, dass in fünf Jahren alle Leute Volksmusik hören werden. Einige lieben sie, andere nicht. Es ist wie mit Klassik und Jazz.
swissinfo.ch: Diese Regeln haben die Szene zurückgeworfen und eine Struktur geschaffen, die nicht viel Kreativität zuliess…
N.R.: Diese Regeln wurden während 60, 70 Jahren angewandt, was ein wenig schade ist. Ich denke, wir bewegen uns heute in eine gute Richtung. Es gibt eine traditionelle Art, Volksmusik zu spielen, und es gibt die Möglichkeit, die Volksmusik etwas freier zu interpretieren.
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Ein Instrument zwischen Tradition und Techno
swissinfo.ch: Früher wurde das Jodeln mit einem etwas altmodischen Image in Verbindung gebracht, weil das Zielpublikum eher ländlich war und die Musik eher konservativ anschaute. Denken Sie, das hat sich verändert?
N.R.: Ich glaube, das hat sich wirklich verändert. Heute ist Volksmusik trendy. Das Publikum ist jünger als früher. Ich denke, das ist darauf zurückzuführen, dass die Leute in der Schweiz wieder eher ihre Wurzeln suchen. Und das nicht nur in der Musik.
swissinfo.ch: Ein Zeichen dieser Suche nach den Wurzeln könnten auch ihr Kursangebot für Firmen und Manager sowie die Jodel-Kurse für Kinder sein. Wonach suchen die Teilnehmenden, und was wollen Sie ihnen mitgeben?
N.R.: Die älteren Teilnehmenden suchen ein persönliches Erlebnis. Es ist etwas, was sie für sich selber machen. In den Kursen mit Kindern ist interessant zu beobachten, wie diese die Lieder wie Popsongs behandeln. Manchmal kennen sie Volksmusik nicht, weil ihre Eltern diese nicht mögen. Doch die Kinder lieben es, zu jodeln und Volkslieder zu singen.
Jodeln begann als Kommunikationsmittel zwischen Nachbarn, die weit voneinander entfernt lebten.
Früher war es als «Jutz» bekannt – kurze Rufe, die verschiedene Bedeutungen haben konnten wie «Teezeit» oder «Wir sind auf dem Weg».
Jodeln ist eine trällernde Gesangsform, die sich dadurch charakterisiert, dass andauernd zwischen Brust- und Kopfstimme gewechselt wird.
In der Schweiz gibt es verschiedene Jodelarten. Der Jutz ist eher ein Jodel-Ruf, in dem die Stimme von hoch oben nach unten fällt. Der Naturjodel ist ein ein- oder mehrstimmiger Jodelgesang ohne Worte.
Diese Naturjodel werden in Familien von Generation zu Generation weitergegeben, sind aber immer in Gefahr, mit der älteren Generation auszusterben.
swissinfo.ch: Welche Firmen nehmen an Ihren Kursen teil?
N.R.: Verschiedene Unternehmen. Ich habe Manager, die viel Zeit vor dem Computer verbringen und nie mit anderen Leuten reden. Jodeln ist auch eine Art der Kommunikation. Ich mache viel in dieser Richtung für Manager und CEOs von Banken. Häufig arbeite ich auch mit Berufsleuten, die mehr im Büro sind als ausserhalb, oder die mit ihren Händen arbeiten.
swissinfo.ch: In welche Richtung bewegt sich die Schweizer Volksmusik-Szene. Mehr in Richtung Crossover oder in Richtung ihrer Wurzeln?
N.R.: Ich denke, es gibt beide Bewegungen. Ich kenne viele Crossover-Volksmusiker, doch die meisten spielen auch traditionelle Stücke. Es ist interessant, Musiker zu sein, wenn man beides tun kann. Um Crossover machen zu können, muss man die Wurzeln der Musik sehr gut kennen. Ein Baum ohne Wurzeln wächst nicht.
Stammt aus einer musikalischen Familie, begann mit 7 Jahren zu singen und Schwyzerörgeli zu spielen. Seit sie mit 13 Jahren ihren ersten nationalen Jodel-Wettbewerb gewonnen hat, ist sie immer wieder im Fernsehen aufgetreten.
Weil sie keine Musikschule fand, in der sie einen Jodel-Abschluss machen konnte, studierte sie klassische Musik und schloss am Zürcher Konservatorium in rekordverdächtigen viereinhalb Jahren mit einem Diplom in Musik und Musiklehre ab.
2005 gewann sie als erste Volksmusikerin den prestigeträchtigen, mit 20’000 Franken dotierten Nico-Kaufmann-Preis für junge Musiker.
Heute ist Räss eine der vielseitigsten Schweizer Jodlerinnen. Sie komponiert eigene Stücke und greift auf verschiedene Arten von mündlich und schriftlich überlieferten Traditionen zurück.
Räss ist künstlerische Direktorin von Klangwelt Toggenburg, wo verschiedene Kurse und Workshops angeboten werden.
Sie war eine der Gründerinnen des internationalen Jodelsymposiums, das bis 2012 jährlich durchgeführt wurde. 2009 startete sie die Jodel-Academy, in der sie Erwachsene und Kinder ins Jodeln einführt.
Sie hat Lernhilfen fürs Jodeln entwickelt, spielt eigene Alben ein und arbeitet mit anderen Künstlern zusammen. Sie tritt als Solokünstlerin auf, zusammen mit dem Ensemble «Stimmreise» wie auch in anderen Projekten.
swissinfo.ch: Die heutigen innovativen Jodler benutzen Equipment wie Hightech-Mikrofone, Loop-Maschinen und Stimm-Verfremder (Vocoder), mit denen sie Elemente aus Rock, Blues und World-Music einfliessen lassen. Ist dies das Ende des traditionellen Jodelns in der Schweiz?
N.R.: Nein, für den Jodel ist es sehr wichtig, diese Mischung zu haben. Ich stecke die Musik nicht gerne in solche Schubladen. Ich denke, in jeder Musikstilrichtung ist es interessant, auszuprobieren und es anders zu machen.
Ich spiele gerne auf der Gitarre, mit der Klarinette, mit verschiedenen Instrumenten und Stilen. Deshalb denke ich, kennen viele Leute das Jodeln und Volksmusik. Wenn Leute an ein Jazzkonzert gehen, und dort jemand jodelt, gehen sie das nächste Mal vielleicht an ein traditionelles Jodlerkonzert. Für die Musik ist diese Offenheit sehr wichtig.
swissinfo.ch: Auf ihrer 2012-er CD «Joolerei – Eine Jodelreise mit Nadja Räss» finden sich Aufnahmen zahlreicher Musiker, die zeigen, wie vielfältig die Schweizer Volksmusik heute ist. Dabei fällt die Virtuosität der Musiker auf. Ist das noch «echte» Volksmusik?
N.R.: Nicht alle Stücke auf dieser CD können als traditionell bezeichnet werden. Ich setze meine Stimme als Jodelinstrument ein, doch die Melodien sind manchmal nicht sehr traditionell. Wenn also in einem Stück Streicher oder ein Schlagzeug zum Einsatz kommen, sind das keine traditionellen Melodien, aber die Technik, die ich beim Jodeln brauche, ist wirklich die traditionelle Art und Weise des Jodelns.
(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)
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