Eine Mumie zwingt der Schweiz eine schwierige Debatte auf
Die Schweiz beherbergt kulturelle Schätze, die Fragen aufwerfen. Diskutiert wird dies zurzeit am Fall der Mumie Schepenese in St. Gallen.
Sie liegt im prachtvollen Barocksaal der Stiftsbibliothek St. Gallen, eine der ältesten und bedeutendsten historischen Bibliotheken der Welt: die ägyptische Mumie Schepenese, nach heutigem Wissensstand eine im Alter von gut 30 Jahren verstorbene Priestertochter aus dem siebten Jahrhundert vor Christus.
Ob Schepeneses St. Galler Ruhestätte im gläsernen Ausstellungssarg der richtige Ort ist für sie, gar wie von der Stiftsbibliothek geschrieben «das schönste Mausoleum, das man sich denken kann»? Das ist eine Frage, die gerade wieder heftig diskutiert wird.
Als der St. Galler Theatermacher Milo Rau im November 2022 den Kulturpreis seiner Stadt erhielt, liess er die St. Galler wissen, dass er sein Preisgeld von 30’000 Franken für die Rückführung der Mumie nach Ägypten spende. Er zog in einer «Kunstaktion» zur Heimführung von Schepenese mit einer Mumienattrappe durch die Stadt, und kritisierte ihre Ausstellung als «ständige moralische Irritation».
Und er prangerte in einer gemeinsam mit einem Komitee verfassten «St. Galler Erklärung für Schepenese» einen «räuberischen, respekt- oder zumindest gedankenlosen Zustand» an, der einer Kulturmetropole wie St. Gallen unwürdig sei.
Einst in Luxor begraben
Was ist passiert? Schepenese, so wird angenommen, war in Ägypten ursprünglich in der Nekropole bei Luxor begraben. Dass sie «ihrem Grab von Grabräubern entrissen worden ist», wie es das Komitee um Milo Rau schreibt, kann gemäss der St. Galler Stiftsbibliothek indes nicht belegt werden. Sie hält in einem Kommentar zur «St. Galler Erklärung» fest, man könne korrekterweise nicht von einer Plünderung Ägyptens im 18. Jahrhundert sprechen.
Vielmehr hätten sich französische, englische und später auch deutsche Wissenschaftler seit dem Ägyptenfeldzug Napoleons ab 1798 wissenschaftlich intensiv mit dem Erbe der altägyptischen Kultur auseinandergesetzt – ganz im Gegensatz zu den Ägyptern selbst, die ihrem Erbe wenig Wertschätzung entgegengebracht hätten.
Veranschaulicht wird die Aussage mit dem Beispiel des ägyptischen Vizekönigs Mohammed Ali, der 1830 eine der heute weltberühmten Pyramiden von Gizeh einen «armseligen Berg» nannte und mit ihrem «Schutt» in Ägypten Kanäle bauen wollte. Die Zerstörung sei dank dem damaligen französischen Konsul in Alexandrien verhindert worden, heisst es im Kommentar.
Eine Frage der Würde
Nach St. Gallen kam Schepenese vor rund 200 Jahren. Philipp Roux, ein deutscher Geschäftsmann, soll sie in Alexandrien mit zwei dazugehörigen Holzsärgen gekauft und einem befreundeten Politiker, Karl Müller-Friedberg, dem Gründervater des Kantons St. Gallen, geschickt haben. Ob Müller-Friedberg die Mumie geschenkt erhielt oder gekauft hat, scheint nicht restlos geklärt.
Bei ihrer Ankunft in St. Gallen wurde Schepenese laut Berichten aus jener Zeit von eingeladenen Gelehrten bis zu den Schultern ausgewickelt, und nach einem Festakt durfte jeder Geladene ein Stück des Mumienstoffes als Erinnerung mit nach Hause nehmen.
Ist dies die Respektlosigkeit, die Milo Rau anprangert? Die deutsche Ethnologin Wiebke Ahrndt sagte dazu unlängst, dass im 19. Jahrhundert oft ganze Partys gefeiert wurden, an denen Mumien ausgewickelt wurden – nicht nur in Europa, sondern auch in Ägypten selbst. Das lasse sich nicht mehr rückgängig machen.
Ahrndt, die einen Leitfaden zum «Umgang mit menschlichen Überresten in Museen und Sammlungen» verfasst hat, ist der Ansicht, dass Mumien ausgestellt werden können – solange dies auf würdevolle Weise geschehe und sich das Herkunftsland nicht daran störe. Ägyptische Museen stellen Mumien ebenfalls aus; ihr Export war gemäss Ahrndt sogar bis 1983 legal.
Die Verantwortlichen der Stiftsbibliothek St. Gallen betonen ihrerseits, mit Schepenese werde keine Schaulust befriedigt. Die Präsentation entspreche gängigen musealen Konzepten zur Ausstellung sterblicher Überreste von Menschen.
Genügen diese Erklärungen, um Schepenese in St. Gallen zu behalten? Der sogenannte «Katholische Konfessionsteil des Kantons St. Gallen», ein kirchenrechtliches Organ, dem sämtliche Bestände der Stiftsbibliothek gehören, scheint auf die Kritik von Milo Rau zu reagieren und umzudenken. Drei Wochen nach der Kunstaktion beschloss die Leitung des Konfessionsteils, eine mögliche Rückführung von Schepenese in ihr Herkunftsland «seriös zu prüfen». Dazu solle mit den zuständigen ägyptischen Behörden zusammengearbeitet werden.
Kulturschätze aus der Nazi-Zeit
Debatten über die Erforschung der Herkunft von ausländischem Kunst- und Kulturgut, die sogenannte Provenienzforschung, kennt die Schweiz vor allem im Zusammenhang mit Raubgold respektive Raubkunst aus dem Zweiten Weltkrieg. Eine Expertengruppe unter der Leitung des Historikers Jean-François Bergier legte 2002 dem Bundesrat in einem umfassenden Bericht dar, dass die Schweizer Wirtschaft eng mit dem nationalsozialistischen Regime kooperierte.
Kunstwerke, die während des Nationalsozialismus in Deutschland (1933 bis 1945) gehandelt wurden, fanden Eingang in private und öffentliche Sammlungen. Abklärungen, ob es sich dabei um Nazi-Raubkunst handelt, sind aus heutiger Sicht ein Muss. Sichtbar macht dieses Engagement etwa das Berner Kunstmuseum, das 2014 den Nachlass des Kunstsammlers Cornelius Gurlitt mit Werken aus dieser Zeit akzeptierte.
Der Fall Gurlitt wurde zur Zäsur. Der Bundesrat entschied sich in der Folge, den Schweizer Museen jährlich 500’000 Franken für die Provenienzforschung zur Verfügung zu stellen. Damit komme man zwar nicht weit, sagt Joachim Sieber, Präsident des Schweizerischen Arbeitskreises für Provenienzforschung (SAP), aber wenigstens sei ein Anfang gemacht.
Kolonialzeit rückt in den Fokus der Politik
Kulturgüter, die aus dem Handel der Kolonialzeit stammen, sind weitere grosse «Brocken», deren sich die Schweizer Provenienzforschung nun annehmen muss. Das mag auf den ersten Blick paradox erscheinen, besass doch die Schweiz nie Kolonien. Doch für Joachim Sieber ist klar: «Die Schweiz war und ist Teil des europäischen (post-)kolonialen Unternehmens.»
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Die Schweiz und der Kolonialismus
Eben weil die Schweiz keine Kolonialmacht war, habe sie – ebenso wie auch Schweizer Unternehmen – nach dem Zusammenbruch der Kolonialreiche beziehungsweise nach 1945 in den neu entstehenden Nationen als unverdächtige Partnerin gegenüber ehemaligen Kolonien auftreten können.
Tatsächlich findet selbst in der Politik allmählich ein Umdenken statt. Davon zeugen gemäss SAP-Präsident Sieber die zahlreichen Debatten, Motionen und Interpellationen im eidgenössischen Parlament – «auch wenn es unangenehm ist und am Selbstverständnis der Schweiz als neutraler Staat rüttelt und das Selbstbild einer egalitären, solidarischen und humanitären Nation in Frage stellt».
Teil einer weltweiten Debatte
Etliche europäische Länder stecken in einer Debatte über koloniale Raubkunst. Einige sprechen offizielle Entschuldigungen aus wie die Niederlande. Andere, wie die belgischen und britischen Royals, belassen es bei Worten des Bedauerns. Und wieder andere sind bereits zur Tat geschritten. So brachte Deutschland Ende 2022 erste Bronzen nach Nigeria zurück.
Das Königtum Benin im heutigen Nigeria wurde 1897 von britischen Kolonialtruppen angegriffen, Tausende Objekte wurden aus dem Palast des Königs geplündert und gelangten über den Kunsthandel in Sammlungen auf der ganzen Welt. Heute verlangt Nigeria die Anerkennung der Bronzen als Beutekunst.
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Koloniale Raubkunst: «Bei der Rückgabe gibt es kein Limit»
Was weniger bekannt ist: Auch Schweizer Museen besitzen rund hundert Objekte, bei denen Benin als Herkunft vermutet wird. Unter der Leitung des Museums Rietberg in Zürich und mit der Unterstützung des Bundesamts für Kultur haben sich acht Museen in der «Benin Initiative Schweiz» zusammengeschlossen. Ziel ist es, Transparenz für die Forschung und den Dialog mit Nigeria zu schaffen. Dialog – ein Schlüsselbegriff im Umgang mit Kulturgütern.
Rückgabe ist nicht einzige Lösung
Schätzungen zufolge befinden sich heute über 90 Prozent der afrikanischen Kulturgüter aus der Kolonialzeit nicht in Afrika selbst, sondern in Europa und den USA. Sollen diese nun alle zurückgegeben werden? Joachim Sieber verneint. Rückgabe sei nicht die einzige Lösung. Kulturgüter könnten beispielsweise zurückgegeben und wieder zurückgekauft oder als Dauerleihgabe zur Verfügung gestellt werden; möglich sei auch die Sichtbarmachung des ursprünglichen Eigentümers am Objekt im Museum.
Entscheidend ist für ihn, die Lösung gemeinsam im Austausch und in der Zusammenarbeit mit den Herkunftsgesellschaften zu finden. Gut möglich also, dass die ägyptische Regierung, um beim eingangs erwähnten Beispiel zu bleiben, die Mumie Schepenese gar nicht zurückhaben will, sondern mit dem Katholischen Konfessionsteil St. Gallens eine andere einvernehmliche Lösung findet.
Bis es soweit ist, wird Schepenese weiterhin jedes Jahr rund 150’000 Besucherinnen und Besucher anziehen – und allabendlich mit einem kleinen Ritual vom Personal der Stiftsbibliothek verabschiedet werden. Nachdem die Türen für die Öffentlichkeit geschlossen haben, wird ein weisses Tuch über den gläsernen Sarg gezogen, Schepeneses Name wird genannt. So wird an die Priestertochter erinnert – und Schepenese nach ägyptischer Vorstellung der Ewigkeit nähergebracht.
Nicht immer sind reiche Länder wie die Schweiz als «Täter» in Kunstraube verwickelt, sie können auch Opfer sein. Jahrhundertelang passten die Kapuzinermönche in Freiburg auf ihre wertvolle Bibliothek auf, aber offenbar nicht immer gut genug. So bemerkten die Ordensbrüder nicht, dass ihnen im Zweiten Weltkrieg das «Narrenschiff» aus dem 15. Jahr-hundert gestohlen worden war.
Das aussergewöhnliche Werk aus der Frühzeit des Buchdrucks tauchte 1945 bei einem New Yorker Händler wieder auf und landete später als Schenkung bei der Washingtoner Library of Congress, eine der grössten Bibliotheken der Welt.
1975 wurden die Kapuziner erneut bestohlen: Ein Dieb, der sich als Bibliothekar aus dem Vatikan ausgab, erbeutete rund zwanzig bibliophile alte Drucke. Wie im Fall des «Narrenschiffs» geriet auch dieser erneute Diebstahl in Vergessenheit, bis Anfang der 2000er-Jahre ein Mitarbeiter der Freiburger Kantons- und Universitätsbibliothek (KUB) zwei neue, in Freiburg bisher nicht bekannte Fakten ans Licht brachte.
Erstens: Die Diebesbeute aus dem Jahr 1975 wurde 1975 und 1976 an Auktionen in München verkauft. Zweitens: Das «Narrenschiff» wird in Washington lokalisiert. Ab diesem Zeitpunkt wurden von der KUB Nachforschungen angestellt, um die rund zwanzig gestohlenen Drucke zu orten und wiederzubeschaffen.
Die Library of Congress in Washington gab dem Kanton Freiburg das «Narrenschiff» Ende 2022 zurück. Es wird heute in der KUB Freiburg aufbewahrt und kann von Forscherinnen und Forschern eingesehen werden.
Dieser Artikel erschien zuerst in der Schweizer Revue.Externer Link
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