Schweizer Comic-Kunst soll wiederaufleben
Comics sind eine Schweizer Erfindung, aber der Markt war immer zu klein, um sich unabhängig zu behaupten. Das könnte sich bald ändern, dank einer florierenden Szene in Genf und einer riesigen und seltenen Comic-Sammlung, die die reiche Geschichte des Genres in der Schweiz ins Rampenlicht stellt.
Cuno Affolter besitzt die grösste Comics-Sammlung in der Schweiz – und die zweitgrösste in Europa. Er gehört zu den ältesten Liebhabern dieses Genres und seine Sammlung in Lausanne soll bald für die Öffentlichkeit zugänglich werden.
«Ein Comic ist heutzutage ein altes Medium», räumt er ein, als er seine Schatzkammer im unterirdischen Lagerbereich der Stadtbibliothek Lausanne öffnet: Stapel um Stapel von Comics finden sich hier, neue und alte, in verschiedenen Sprachen.
Seltene Ausgaben des Untergrund-Comics Zap aus den späten 1960er-Jahren in perfektem Zustand liegen hier neben ersten Ausgaben von Tintin. Auch die Persiflage eines Abenteuers des belgischen Comics-Helden ist zu finden: «Tintin in der Schweiz» kam in den 1980er-Jahren in den Niederlanden heraus; es ist eine Geschichte voller Sex- und Drogenszenen, Tintin ist ein Fixer, Kapitän Haddock schwul und Bianca Castafiore eine Nymphomanin.
Neben einigen Micky-Maus-Ausgaben, die 1936 in Zürich erschienen, liegt eine Mappe mit Kinderzeichnungen des Disney-Charakters, die irgendwie etwas deplatziert wirken. Das Kind, stellt sich heraus, war H. R. Giger – der exzentrische, 2014 verstorbene Schweizer Künstler und Oscar-Preisträger, der unter anderem das Setdesign für den Film «Alien» entworfen hatte. «Ohne Mickey Mouse hätte es ‹Alien› wahrscheinlich nie gegeben», erklärt Affolter.
Ein Comic-Enthusiast könnte problemlos Wochen damit verbringen, die Raritäten in Affolters Sammlung zu durchstöbern, zu der ein weiteres grosses Archiv im Nachbargebäude gehört. Die Comics befinden sich zurzeit in einem Zwischenlager, während eine neue Bibliothek gebaut wird, in der die ganze Sammlung später für die Öffentlichkeit zugänglich sein wird.
Schweizer Erfindung
Das Comicbuch-Genre wurde in den späten 1820er-Jahren in der Schweiz erfunden, genauer gesagt in Genf, vom Pädagogen und Politiker Rodolphe Töpffer. Seine satirischen «illustrierten Geschichten» waren anfänglich einfach zur Unterhaltung seiner Freunde gedacht, darunter Johann Wolfgang von Goethe. Der deutsche Dichter ermutigte Töpffer, seine originellen Entwürfe zu veröffentlichen und verlieh dem neuen Genre etwas wie den Segen eines «Patenonkels».
Töpffer entwickelte auch einige theoretische Grundsätze zu diesen illustrierten Geschichten, die auf der Wirkung der Vermischung von Text und Illustrationen fussen. «Die Bilder hätten, ohne den Text, nur eine obskure Bedeutung; der Text würde, ohne die Bilder, nichts bedeuten», sinnierte er.
Das Format wurde rasch recht beliebt, vor allem in Deutschland, von wo aus eine florierende Verlagsbranche mit «Bildgeschichten» bald einmal ihren Weg in die Vereinigten Staaten fand.
«Die Geschichte des modernen Comics begann dann in Amerika, in den Boulevardzeitungen von Hearst und Pulitzer. Es war das erste Mal, dass Millionen von Leuten die gleiche Geschichte lasen, und zwar im ganzen Land. Am nächsten Tag gab es – je nachdem – eine neue Geschichte oder eine Fortsetzung des Vortages, und so weiter», erklärt Affolter.
Diese frühen Comics seien einfache Produkte gewesen, während das was «Töpffer tat, viel mehr wie ein richtiges Buch war». Affolter räumt auch ein, dass hinter dem Schweizer Anspruch, das Comic erfunden zu haben, eine komplexe Geschichte steckt.
Es sei ähnlich wie mit dem Entstehen der Fotografie. «Wir mögen zwar denken, dass wir [die Schweizer] die Comics erfunden haben, aber gleichzeitig wurden sie auch an anderen Orten entwickelt, wie etwa in Japan.» Es sei also schwierig, zu sagen, dass «diese oder jene Person das Comicbuch zu einem bestimmten Zeitpunkt erfunden» habe, erklärt Affolter.
Neues Publikum
Der Sammler Affolter, der mehr als 40 Jahre seines Lebens dem Comicbuch-Genre gewidmet hat, kann nicht anders als die Entwicklung der Comics in einer breiteren Perspektive zu sehen.
Zuerst, nach der Wende zum 20. Jahrhundert, seien Comics für den Mann von der Strasse geschaffen worden, sagt Affolter. Und fügt hinzu, die Verleger hätten Zeitungen an Leute verkaufen wollen, die bis dahin nicht die Gewohnheit hatten, zu lesen.
In den 1920er- und 1930er-Jahren, zur Zeit als das Radio aufkam, hätten sich gewisse Comics, wie etwa Dick Tracy, vor allem an junge Leute gerichtet. Neue Medienformate wie Radio und Fernsehen hätten von diesen Comics den so genannten «Cliffhanger»-Effekt übernommen, also das offene Ende einer Episode, das erst im nächsten Beitrag aufgelöst wird, um das Publikum Tag für Tag bei der Stange zu halten.
«Das wurde nicht nur zur Grundlage der modernen Comics, sondern auch für die Art und Weise, wie Massenmedien ihre Schilderungen und Berichte entwickelten, um das Publikum anbinden zu können», sagt der Comics-Sammler.
Zwei Kulturen
In der Schweiz waren Comic-Strips schon in den 1930er-Jahren sehr beliebt, dank Globi, einem Charakter, der als Werbeinstrument für die Warenhauskette Globus entwickelt wurde. Globi ist bei Kindern noch heute beliebt. Bei den Erwachsenen entwickelten sich, was Comics anging, entlang der als «Röstigraben» bekannten imaginären kulturellen Trennlinie massive Unterschiede zwischen der französischsprachigen und der deutschsprachigen Schweiz.
Deutschschweizer waren in der ersten Hälfte des letzten Jahrhunderts stark beeinflusst von der deutschen Comicszene, die nach dem Zweiten Weltkrieg verschwand. Während die Franzosen auch unter der Nazi-Besetzung weiterhin Comics veröffentlicht hatten und nach dem Krieg weitermachten, hatten die Nachkriegsdeutschen dringendere Probleme zu lösen. Schliesslich kehrte aber auch die deutsche Comicszene wieder zurück, und zwar mit einem Knall, mit einem neuen Stil, der frei war von früheren Einflüssen, wie Affolter sagt.
Der gleiche blanke Hintergrund gab auch der Comicszene, die in den späten 1970er- und in den 1980er-Jahren in Zürich blühte, neuen Impuls. Auch Magazine wie «Strapazin»Externer Link – für Kunstschaffende bis heute eine wichtige Referenz – und der Verlag Edition ModerneExterner Link trugen dazu bei. Die Deutschschweizer Comicszene von heute, sagt Affolter, leide jedoch unter den Zwängen eines kleinen Markts und dem mangelnden Interesse unter jungen Menschen.
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Genf tritt hervor
Anders sieht die Geschichte in der Westschweiz aus, die immer vom grossen Comic-Markt im benachbarten Frankreich geprägt war, wie Affolter sagt.
In den 1970er-Jahren gelang es den französischsprachigen Comic-Künstlern Derib, Cosey und Seppi einen Schweizer Stil zu etablieren, der sich von jenem in Paris unterschied. Diese drei Comics-Künstler waren unter den ersten, die persönliche Geschichten in ihr Werk einbrachten, wie zum Beispiel ihre Erfahrungen als Hippies unterwegs in Indien.
Da es aber in der Schweiz keinen etablierten Markt für Comics gab, hielt der grosse Erfolg der drei Zeichner nicht allzu lange an.
Heute jedoch sieht Affolter in Genf eine neue Comicszene entstehen, die seiner Ansicht nach Potential hat. Er verweist darauf, dass viele junge Kunstschaffende ihre Arbeiten heute selbst veröffentlichen, für Fans eines bestimmten Künstlers oder einer bestimmten Gruppe so genannte «Fanzines» kreieren. Und zudem wird an einer Genfer Fachhochschule seit kurzem erstmals in der Schweiz ein LehrgangExterner Link für Comic-Zeichner angeboten.
Die neue Genfer Szene, in Kombination mit der Sammlung von Cuno Affolter, die in naher Zukunft für die Öffentlichkeit zugänglich sein wird, könnte bedeuten, dass die französischsprachige Schweiz bald einmal Heimat der nächsten Revolution in der Schweizer Comicszene werden könnte.
Fumetto Internationales Comix Festival
In Luzern findet diese Woche das 27. Fumetto Comic-FestivalExterner Link statt, das Tausende von Comic-Begeisterten, Künstlerinnen und Künstler sowie Fachleuten aus der ganzen Schweiz und darüber hinaus anzieht. Das Festival geht am 22. April zu Ende.
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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