Eine poetische «Zeit»-Reise
Was ist Zeit? Ein soziales Konstrukt? Eine Illusion? Eine Realität? Hat Zeit einen Anfang und ein Ende? Solche Fragen stehen im Zentrum von The End of Time. Der Dokfilm des schweizerisch-kanadischen Regisseurs Peter Mettler steht in Locarno im Wettbewerb.
«Am Anfang gab es keine Namen, Dinge haben keine Namen, wir haben sie erfunden. Viele Kulturen haben Geschichten kreiert, um die Schöpfung zu erzählen, unterschiedliche Geschichten, die jedoch alle auf die gleiche Weise beginnen: Am Anfang gab es keine Zeit – oder mit anderen Worten: es gab nichts anderes als die Zeit.»
So beginnt die Reise von Peter Mettler durch die Zeit, auf der Suche, den Begriffen von heute und morgen einen Sinn zu geben. Es ist eine Reise der Sinne, wo sich die Kraft der Bilder mit den ruhigen Stimmen von Männern und Frauen ohne Namen und Gesichter verknüpft.
Die Videokamera trifft den Big Bang, den Mond und die Sterne, verfolgt die Lava von Vulkanen bis nach Hawaii, mischt sich unter buddhistische Bräuche und verliert sich in einem verwahrlosten Detroit, zwischen Techno-Musik und Gärten, die in den Trümmern einer Fabrik spriessen.
«Der erste Schritt bestand darin, die Wolken zu beobachten», erzählt der schweizerisch-kanadische Regisseur gegenüber swissinfo.ch. «Ich wollte versuchen zu verstehen, wo sie herkommen, wo sie hinziehen und was dazwischen passiert. Es sollte eine Art meteorologische Studie sein. Schliesslich ergab sich daraus eine Recherche über Veränderung und Zeit. Denn Zeit bedeutet Veränderung.»
Peter Mettler, geboren in Toronto als Sohn von Schweizer Eltern, ist kein Neuling dieser Filmsprache, welche die Erzähl-Logik umwälzt. Wie seine früheren Dokumentarfilme Picture of Light (1996) und Gambling, Gods & LSD (2002) entstand The End of Time unterwegs, dank Recherche und Forschung, aber auch zufälligen Begegnungen.
«Ich hatte nie vor, das Rätsel der Zeit zu lösen. Es wäre absurd zu glauben, man könne all die philosophischen, astronomischen, geologischen oder religiösen Theorien darlegen, die es zu diesem Thema gibt. Ich wollte die Zeit mit dem Medium Kino beobachten, mit dem Wissen, dass es ein grosses Paradox ist, die Natur verewigen zu wollen.»
The End of Time ist eine langsame meditative Fahrt, eine Herausforderung für ein Publikum, das es gewohnt ist, von einer Handlung und einem Rhythmus geführt zu werden. Peter Mettler bricht die Schemen mit einer lautlosen Heftigkeit, die verstört, weil man gezwungen wird, die eigenen Ansichten zu hinterfragen, ob man will oder nicht.
Ein relatives Modell
Der Dokfilm beginnt im Herzen des grössten Teilchenbeschleunigers der Welt. Wir sind im CERN bei Genf, an jenem Ort, wo vor kurzem ein neues Elementarteilchen gefunden werden, bei dem es sich um das seit langem fieberhaft gesuchte «Gottesteilchen» handeln könnte. Dieses soll beweisen, dass alles im Universum aus Masse besteht. Doch die Physiker sind sich nicht einig: Ist die Zeit real oder lediglich eine Wahrnehmung?
«Die meisten Wissenschaftler sind überzeugt, dass alles mit dem Big Bang begonnen hat, das ist aber nur ein Modell, eine mentale Darstellung», hört man einen Forscher am CERN sagen. Nach Einsteins Entdeckung schien alles klar: Zeit, Natur und Raum sind unauflöslich miteinander verbunden. Die Zeit ist absolut, aber relativ.
«Das ist der Grundbestandteil», kommentiert ein anderer Forscher. «Die Physik gestattet uns zu erklären, was wir sehen. Es ist unsere Art, die Natur zu verstehen.»
Und in der Natur ist der Zeit-Begriff noch relativer. «Die Zeit ist eine Wahrnehmung», erzählt im Film eine Jugendliche. «Ich weiss, dass sie existiert, denn ich kann sehen, wie sich Dinge verändern, wie die Jahreszeiten vorbeigehen und die Zeit schnell vergeht…»
Peter Mettler hat mit seiner Videokamera die Natur verewigt. Er hat sich auch gefragt, ob die Tiere die Zeit wohl gleich wahrnehmen wie die Menschen, welches der Antrieb ist, der hinter der Vulkan-Lava oder der Welle des Meeres steckt.
Zeit ist Geld
Seine Überlegungen brachten ihn auch nach Detroit, Symbol für den amerikanischen Traum und den amerikanischen Abstieg, eine Stadt, die in knapp 50 Jahren über eine Million Einwohner verloren hat.
«Auf diesem Parkplatz, der gestern ein Theater war, hat Ford sein erstes Automobil-Modell erfunden», hört man die Erzählstimme sagen. «Hier wurden die Arbeiter aufgefordert, jene Autos zu kaufen, zu deren Bau sie beigetragen hatten. Aus Zeit ist Geld geworden.»
Wir rennen gegen die Zeit an, mit dem Blick in die Zukunft. Wir entwickeln neue Technologien in der Überzeugung, dass damit Zeit und vielleicht auch Geld gespart werden kann. Aber «die Zeit ist nichts als ein Konzept, eine Auferlegung, die dazu dient, eine Gesellschaft zu organisieren. Etwa so wie die Sprache dazu geschaffen wurde, die Welt zu definieren», erklärt Peter Mettler überzeugt.
«Solche Konzepte wie etwa die Religion können aber dazu führen, dass man sich von der ‹realen› Welt entfernt, von der Natur und allem, was hinter diesem Wort steht.»
Peter Mettler schaut auf die Uhr. Auch unsere Zeit ist abgelaufen. Es ist schwierig, trotz guter Absichten, die Zeit einfach zu vergessen – mit der Unschuld eines Kindes.
Was wir machen können, ist also nur hoffen, dass alles gut geht, sagt eine ältere Frau. Das Bild auf der Leinwand wechselt, es erscheint das Gesicht von Peter Mettlers Mutter, die uns auf den Boden der Realität zurückholt. «Was bedeutet für dich Zeit?», fragt der Sohn. «Die Zeit…ist, sich über alles so fest wie möglich zu freuen. Ist das die richtige Antwort?»
Geboren 1958 als Sohn von Schweizer Eltern in Toronto.
1977 beginnt er eine fünfjährige Filmausbildung am Ryerson Polytechnical Institute in Toronto.
Nach Ende des Filmstudiums kann er sich auch als Kameramann etablieren. Er arbeitet mit Atom Egoyan, Bruce McDonald, Patricia Rozema und Jeremy Podeswa.
1985 gründet er in Toronto seine Produktionsfirma Grimthorpe Film.
Peter Mettler lebt vorwiegend in Kanada, hält sich aber immer wieder mal längere Zeit in der Schweiz auf.
Er gilt als einer der inspiriertesten und inspirierendsten Filmemacher seiner Generation.
1994 wurde sein Dokumentarfilm Picture of Light am Festival von Locarno mit dem Sarraz-Preis ausgezeichnet.
Gambling, Gods and LSD (2002) erhielt am Visions du Réel in Nyon den Grossen Preis.
(Quelle: Swiss Films)
Neben The End of Time des Schweizer Cineasten Peter Mettler steht ein weiterer Schweizer Dokumentarfilm im internationalen Wettbewerb: Image Problem, das Erstlingswerk der Jung-Regisseure Simon Baumann und Andreas Pfiffner, ein humoristischer Streifen über die Schweiz und ihre Klischees.
Zudem werden drei Schweizer Filme auf der Piazza Grande gezeigt:
Nachtlärm, von Christophe Schaub
Das Missen Massaker, von Michael Steiner
More Than Honey, von Markus Imhoof.
(Übertragung aus dem Italienischen: Gaby Ochsenbein)
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