Eine «salomonische» Lösung für das Erbe Gurlitts
Der Entscheid des Kunstmuseum Bern, das umstrittene und heikle Erbe des deutschen Kunstsammlers anzunehmen, stösst in der Schweizer Presse mehrheitlich auf positives Echo. Kritisiert wird aber auch der Mangel an Mut über die beschlossene "Minimalvariante".
«Fast nur Sieger im Erbfall Gurlitt», titelt der Zürcher Tages-Anzeiger. Es gebe nur selten Lösungen, über die sich am Ende fast alle freuen könnten. «Also freuen wir uns mit dieser einen im Erbfall Gurlitt, wo das Berner Kunstmuseum zusammen mit den deutschen Behörden in den vergangenen Monaten eine salomonische Lösung über die Art der Verteilung des heiklen Erbes gefunden hat.»
Gemäss Abkommen zwischen dem Kunstmuseum Bern, der Bundesrepublik Deutschland und dem Freistaat Bayern werden alle Werke der Sammlung, die einst als «entartete Kunst» beschlagnahmt wurden, in die Kollektion des Berner Hauses eingehen.
Alle Werke indes, die im Verdacht stehen, auf die eine oder andere Weise Raubkunst zu sein, bleiben vorderhand in Deutschland und werden wenn immer möglich den Nachkommen ihrer früherer Besitzer zurückgegeben.
Der Tagi-Kommentator bezeichnet die Vereinbarung vollumfänglich als «vorbildlich». Vorbildlich sei auch, dass Deutschland und die Schweiz wieder einmal gemeinsam eine rasche und unkomplizierte Lösung gefunden hätten. «Das war in der Vergangenheit, etwa beim Steuerstreit, nicht immer so. Im Fall Gurlitt half, dass keine wirtschaftlichen Interessen im Vordergrund standen, die Bewältigung der Geschichte ist ebenso wichtig.»
Signalwirkung
Der Berner Bund hofft, die Vereinbarung könnte sich als Win-Win-Situation entpuppen, denn Bern werde eine auf Herz und Nieren geprüfte Sammlung antreten, und Deutschland dokumentiere mit Taten, dass es ihm fast 70 Jahre nach Kriegsende ernst damit sei, endlich reinen Tisch zu machen.
«Darüber hinaus könnte der Fall Gurlitt Auslöser und Katalysator für einen neuen und gerechten Umgang mit NS-Raubkunst sein – und dies auch in der Schweiz, wo trotz der Verpflichtung im Washingtoner Abkommen der Aufklärungswille vieler Museen im Bereich Raubkunst bislang bescheiden ist.» Gerade die Schweiz habe sich in den letzten Jahren – nicht zuletzt im Unterschied zu Deutschland – an eine sehr enge und legalistische Auslegung des Begriffs Raubkunst gehalten, schreibt der Bund weiter.
«Sogenanntes Fluchtgut, das heisst in der Not verkaufte Kunstwerke, deren Erlös zur Finanzierung der Flucht oder des Überlebens in der Emigration diente, gilt bislang nicht als Restitutionsgrund. Hier könnte dank der Sammlung Gurlitt, die mittlerweile zum Symbol für NS-Raubkunst geworden ist, eine die Realität einer Diktatur angemessen berücksichtigende Beurteilung von Rückgabeforderungen eine wichtige Signalwirkung haben.»
ie Neue Zürcher Zeitung begrüsst die Annahme des heiklen Erbes grundsätzlich, kritisiert aber, den Berner Strategien, soweit man sie aus den Darstellungen der Verantwortlichen herauslesen könne, hafte doch auch eine gewisse Kleinlichkeit an: «Man möchte gut dastehen – man möchte aber auch einen guten Stich machen. Das ist verständlich und wird sicher auch Applaus ernten – aber kann man von einer Kunst-Institution nicht erwarten, dass sie aus einem anderen Geist heraus agiert?»
Deutsche Pressestimmen
Die gefundene Vereinbarung zwischen Deutschland und der Schweiz setzt Massstäbe. An den vorbildlichen Lösungen werden sich auch die Museen messen lassen müssen: Das Erbe von Cornelius Gurlitt, einem Privatmann, steht nun online. Wann stellt das erste deutsche Museum sein Erwerbungsinventar aus der NS- Zeit ins Netz?
Süddeutsche Zeitung – Die Kraft der Bilder
Am Montag nahm das Museum Bern das Erbe an – weil die deutsche Bundesregierung und das Land Bayern die organisatorische, finanzielle und juristische Verantwortung für mögliche NS-Raubkunst in dem Fundus übernehmen, die Schweizer also keinerlei Risiko eingehen. Das ist ein guter Ausgang für diese Geschichte. Der politische Wille ist da. Bilder und Informationen zu ihrer Herkunft werden veröffentlicht, Opfervertreter können Ansprüche geltend machen.
Die Welt – Keine Stunde Null
Sammlung Gurlitt» und «Raubkunst» waren die Worte, die seit 2012 immer wieder aus den Dämmerschichten des Halbwissens und nicht mehr Wissenwollens an die Oberfläche gelangten. Sie erinnerten die Deutschen daran, dass die düsteren Teile ihrer Vergangenheit vor allem dann empordämmern, wenn man verdruckst mit ihnen umgeht. Darüber hinaus enthüllten sie, dass die «Stunde Null» am 8. Mai 1945 nicht in allen Teilen der Gesellschaft geschlagen hatte, sondern es Bereiche gibt, in denen das Unrecht des Dritten Reiches bestehen blieb.
Jetzt müssen Taten folgen
Unter dem Titel «Tag der Entscheidung, Tag der Erleichterung» fordert die Basler Zeitung, dem von allen Seiten beschworenen Tatendrang müssten nun auch Ergebnisse folgen: «Vor allem die deutsche Task-Force sollte ihre Tasks ein wenig forcierter erledigen. Dass es bis heute nur drei Gemälde sind (ein Liebermann, ein Matisse, ein Spitzweg), die als geraubt identifiziert werden konnten, ist beschämend. Aber die Task-Force soll ja jetzt das Dreifache ihrer bisherigen Mittel bereitgestellt bekommen.» Das sei überfällig, denn «jedes Bild, das baldmöglichst in seine frühere Umgebung zurückkehrt, macht das Unrecht der Nationalsozialisten nicht kleiner; aber um eine Spur erträglicher. Die Arbeit geht erst richtig los».
Der Schatz muss gezeigt werden
Die französischsprachigen Tribune de Genève und 24 heures plädieren dafür, dass diese Werke nun ausgestellt und mit der Geschichte, ihrer Geschichte, konfrontiert würden. «Man muss sie mit ihren Stigmen und Lehren über die Perversion der Kunst durch ein totalitäres Regime direkt anschauen.»
«Nicht mutig genug»
Die Berner Zeitung wirft in ihrem Kommentar dem Kunstmuseum Bern vor, es überlasse die Risiken und die Last der Unwägbarkeiten zu einem grossen Teil den deutschen Behörden. Noch gewichtiger sei aber, dass sich das Kunstmuseum gescheut habe, in der drängenden Diskussion um die Rückgabe von Werken aus Beständen der «entarteten Kunst» ein Zeichen zu setzen und diese den deutschen Museen zurückzugeben. «Die nun beschlossene Minimalvariante ist fast schon ein Affront. Sie zeugt jedenfalls nicht von jenem Mut, der gestern allenthalben beschworen worden ist.»
Nein, ein Befreiungsschlag sei diese Vereinbarung nicht, schreiben Aargauer Zeitung, Solothurner Zeitung, Mittellandzeitung und die Südostschweiz in ihrem gemeinsamen Kommentar. Vielmehr handle es sich um die Suche aus der Sackgasse. Gern gegangen sei Bern diesen Weg nicht, so die Kommentatorin. Das zeige sich in der Vorsicht, die zwischen den Zeilen präsent sei, man spüre die Angst in Bern.
«Kein inkriminiertes Werk darf deshalb über die Schwelle des Kunstmuseums kommen. Angst in Deutschland: Man könnte moralisch vor der Vergangenheit und der Welt versagen. Bern ist für Deutschland aber ein verlässlicher Partner, verlässlicher wohl als die zerstrittene Familie. Deshalb das Werben, deshalb auch der Deal: Die sauberen Bilder kommen nach Bern. Was unter Raubkunstverdacht steht, bleibt in Deutschland, wird dort geklärt und restituiert. Die Kosten zahlt Deutschland. Die Schweiz profitiert. Wieder. Ein Grund mehr für ein mulmiges Gefühl.»
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch