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Eine Weltreise in sechzig Reportagen

Annemarie Schwarzenbach hat ihren Platz unter den grossen Schweizer Reiseschriftstellern neben Nicolas Bouvier und Ella Maillart. Estate of Marianne Breslauer, Zurich

Romanautorin, Archäologin, Journalistin: die Zürcherin Annemarie Schwarzenbach (1908-1942) hat die Welt bereist. Sechzig ihrer Artikel, geschrieben zwischen 1934 und 1942, erscheinen erstmals in einem französischsprachigen Buch.

Am Anfang dieses Buches steht das leidenschaftliche Interesse von Marlyse Pietri, Direktorin von Editions Zoë in Genf, für eine junge Schweizer Reporterin.

«Etwa vor zwei Jahren habe ich an einer Ausstellung in Lausanne Manuskripte, Fotos und vor allem Artikel von Annemarie Schwarzenbach entdeckt, die in den 1930er- und 40er-Jahren in verschiedenen Deutschschweizer Zeitungen erschienen sind.»

Damals unternahm die knapp 30-jährige Schwarzenbach ausgedehnte Reisen. Im Rahmen ihrer zahlreichen Reportagen, unter anderem für die Neue Zürcher Zeitung und die National-Zeitung (heute Basler Zeitung), berichtete sie über Ereignisse, die in aller Welt stattfanden.

In diesen Berichten vermischte sich ihre analytische Schreibweise (sie war Doktorin der Geschichte) mit dem Rausch ihrer Eindrücke. Ein verrücktes Talent, das ihr heute einen Ehrenplatz im Pantheon der grossen Reiseschriftsteller der Schweiz, allen voran Nicolas Bouvier, sichert.

Pietri entschied sich dazu, die Reportagen der jungen Autorin in einem Buch zusammenzufassen. Heute gibt sie zu: «Ich wollte die Intelligenz der Annemarie Schwarzenbach hervorheben, weil heute oft fälschlicherweise behauptet wird, sie habe ihren Weitblick im Opiumnebel verloren.»

Die beiden Frauen Dominique Laure Miermont und Nicole Le Bris übernahmen die Übersetzung. Erstmals kommen diese Texte Schwarzenbachs nun in einem Buch heraus (Annemarie Schwarzenbach. «De monde en monde. Reportages 1934-1942.»).

Schweizer Spuren in der Welt

Es ist eine heisse Zeit, in der die junge Frau die Welt durchpflügt. Der Nationalsozialismus gewinnt in Europa an Boden.

Vom Nahen Osten nach Marokko, durch die USA, nach Osteuropa, Afghanistan und in den Kongo führen sie die Reisen.

Die unendlichen Horizonte erwecken in ihr einen Wunsch: Jede mögliche Schweizer Spur in der Welt zu finden und die Welt in der Schweiz bekannt zu machen.

Sie inspirieren die Reporterin auch zu einer pointierten politischen Reflektion über die geostrategischen Probleme und die schwierigen Beziehungen zwischen Norden und Süden.

Doch zuerst kommt die Schweiz, ihre «Pioniere». Jene, die sich entschlossen haben, ihr Glück im Ausland zu finden, beispielsweise im Iran. Die tapferen «Auswanderer», die einen eher lockeren Bezug zu ihrer Identität pflegen – anders als die Franzosen und die Engländer.

Sie würden sehr geliebt, «zweifellos, weil man weiss, dass sie hier nur als Individuen hingekommen sind (…). Ihr Heimatland hat noch nie am grossen Spiel der Hegemonialpolitik teilgenommen, die den Hintergrund der Geschichte des Nahen Ostens bildet», schreibt die Reporterin aus dem Iran. Diese Zeilen stammen aus dem Jahr 1940. Was hat sich seither verändert? Fast nichts, zumindest nicht politisch.

Die Schweiz jener Zeit, eingeklemmt zwischen Hitlers Deutschland und Mussolinis Italien, kämpft um ihre Neutralität. Für Schwarzenbach ist diese Neutralität kein Klischee. Sie ist vielmehr die Garantie für den Erfolg ihres Landes in der Welt, respektvoll gegenüber der eigenen Vielfalt und jener anderer Völker. «Die Schweiz wurde immer als Modell einer zukünftigen Europäischen Union angesehen», schreibt sie.

Die Geschichte wiederholt sich

Gleiche Worte, zumindest fast, aus dem Mund des französischen Essayisten Jacques Attali in einem Interview aus dem Jahr 2011: «Das Schweizer Modell kann eine gute Referenz sein für eine funktionierende Weltregierung.»

Das Hin und Her zwischen Gegenwart und Vergangenheit findet im Kopf der Leser statt. Sie erhalten einen Eindruck davon, wie sich die Geschichte abermals wiederholt. In den 1940er-Jahren litt der Nahe Osten unter der «Hegemonialpolitik» der westlichen Mächte, die sich besonders für die strategische Situation im Iran und in Afghanistan interessierten, sagt Schwarzenbach. Sie weiss, es wird immer so sein.

Die aktuellen Ereignisse geben ihr recht. Wie auch der jungen Frau, die beobachtet: Die baltischen Staaten, damals von Nazideutschland besetzt und von der Sowjetunion begehrt, «entwickeln sich überraschend schnell und werden in Zukunft einmal ihr Schicksal selber bestimmen». Heute sind die drei freie Staaten – und Mitglieder der Europäischen Union.

Die Enkelin von General Ulrich Wille wird am 23. Mai 1908 in Zürich geboren und wächst in einer wohlhabenden Familie auf. Sie studiert Literatur in Zürich und Paris.

1931 zieht sie nach Berlin und lernt Erika und Klaus Mann kennen, die Kinder des Schriftstellers Thomas Mann. Sie teilt deren antifaschistische Haltung und distanziert sich von der eigenen Familie, die Hitlers wahre Natur lange Zeit verkennt.

1933: Erster Aufenthalt im Iran (damals Persien). 1935 zweiter Aufenthalt.

Im gleichen Jahr heiratet sie den französischen Diplomaten Claude Clarac und lernt Barbara Hamilton-Wright kennen, mit der sie zahlreiche Reisen unternehmen wird.

1936-1938 bereist sie mit Hamilton-Wright die USA, unterbrochen von Aufenthalten in der Schweiz und in Osteuropa.

1939/40 reist sie mit der Walliser Schriftstellerin Ella Maillart nach Afghanistan.

1940-1941 bereist sie erneut die USA und lernt die Schriftstellerin Carson McCullers kennen.

Nach einer Reise in den Belgisch Kongo (heute Demokratische Republik Kongo) kehrt sie 1942 in die Schweiz zurück. Im gleichen Jahr stirbt sie nach einem Fahrradunfall in Sils (Graubünden).

(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)

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