Erobert Schweizer «Seconda-Kino» Hollywood?
Eine schweizerisch-iranische Regisseurin kommt in Hollywood zu Ehren: Der Kurzspielfilm "Parvaneh" von Talkhon Hamzavi ist für Sonntagnacht im Rennen um einen Oscar nominiert. Dies allein schon ist ein grosser Erfolg.
Sie scheinen alle etwas nervös zu sein: der Produzent Stefan Eichenberger, die Professoren der Zürcher Hochschule der Künste (ZHdK) und die Mitglieder der Filmcrew, die Anfang der Woche in Los Angeles angekommen sind. Doch Regisseurin Talkhon Hamzavi ist die Ruhe selbst.
«Man kann nicht von morgens bis abends nervös sein», sagt «Tali», wie sie von allen genannt wird, am Telefon zwischen zwei Treffen in der Stadt der Engel.
Denn das Team muss «Kampagne machen», um die Mitglieder der «Academy of Motion Picture Arts and SciencesExterner Link» zu überzeugen, für ihren Film «Parvaneh» (auf Farsi: Schmetterling) zu stimmen. Der Film war 2012 ihre Abschlussarbeit an der ZHdK, und er wurde zusammen mit vier weiteren aus 141 Kandidaten für die Kategorie «Live Action Short Film» ausgewählt (neben den Animations-Kurzfilmen eine der beiden Kurzfilm-Kategorien).
In 24 Minuten erzählt Hamzavi die Geschichte der jungen afghanischen Flüchtlingsfrau Parvaneh, die im Kanton Schwyz in einem Asylzentrum lebt, wo sie auf ihren Asylentscheid wartet. Als sie erfährt, dass ihr Vater in Afghanistan krank geworden ist, entscheidet sie sich, ihm Geld zu schicken, das sie schwarz bei einem Bauen in der Nähe verdient, der die Situation ausnützt und ihr weniger als den vereinbarten Lohn bezahlt.
Eine Reise nach Zürich offenbart verschiedene Kulturschocks: zwischen den Schwyzer Bergen und der hektischen Metropole, zwischen der jungen verschleierten Frau – hervorragend gespielt von Schauspielerin Nissa KashaniExterner Link, Waadtländerin mit iranischen Wurzeln wie die Regisseurin – und der jungen Punkerin, die ihr hilft, sowie in den Beziehungen Jugendliche-Eltern in den beiden Kulturen.
Die schönen Bilder des Kameramanns Stefan Dux wie auch die einfache und subtile Inszenierung enthüllen, ohne lange Dialoge, die Einsamkeit Parvanehs und das Wachsen einer Freundschaft.
Zahlreiche Auszeichnungen
Der «Schmetterling» kann bereits auf eine lange Karriere von Ehrungen zurückblicken, hat er doch bereits bei den Oscars 2013 die Silbermedaille für das beste Filmstudenten-WerkExterner Link und zahlreiche Preise an Festivals gewonnen. Es ist deshalb bereits das zweite Mal, dass Talkhon Hamzavi Hollywood «erobert».
Die 1979 in Teheran geborene Regisseurin kam mit sieben Jahren in die Schweiz und wuchs im Kanton Aargau auf. Sie verneint aber jegliche Parallelen zwischen ihr und ihrer Protagonistin, auch wenn sie, gemäss Produzent Stefan Eichenberger, «sicherlich jene Gefühle kennt, in eine komplett unbekannte Welt aufzubrechen». Wie um Distanz zwischen ihre und die Biografie Parvanehs zu legen, hat Hamzavi ihrer Heldin eine afghanische Identität verpasst, und nicht eine iranische.
Auch wenn das Kino schon immer ihre Passion war, konnte die junge Frau nicht von Anfang an ein Studium dieser Kunst in Angriff nehmen. «Meine Eltern, auch sie Künstler, kannten die soziale Unsicherheit einer Künstlerkarriere. Die beiden Kunstmaler wollten, dass ich erst einmal eine Berufslehre mache», erzählt sie.
Oscars und Schweizer Film
Das «kleine» Filmland Schweiz steht natürlicherweise nicht zuvorderst auf der Bühne, wenn das grosse Spektakel der 7. Kunst alljährlich die 24 Goldmännchen vergibt.
In den offiziellen Statistiken der «Academy of Motion Picture Arts and Sciences» nimmt die Schweiz mit 2 Oscars und 5 Nominationen aber trotzdem einen mehr als beachtenswerten Platz im Klassement der nicht englischsprachigen Nationen ein.
Diese Liste wird angeführt von Italien (11 Oscars/28 Nominierungen/3 Sonderpreise), vor Frankreich (9/36/3) und Spanien (4/19). Hinter der Schweiz liegen Länder wie Kanada (1/6), Japan (1/12/3) und Russland (1/5).
Die beiden als bester ausländischer Film prämierten Schweizer Werke sind die französisch-schweizerische Koproduktion «Gefährliche Züge» (La Diagonale du fou) von Richard Dembo (1984) und der schweizerisch-türkische Spielfilm «Reise der Hoffnung» von Xavier Koller (1991).
Der Basler Produzent Arthur Cohn hat in den Jahren 1962, 1991 und 2000 jeweils den Oscar für den besten Dokumentarfilm gewonnen.
Ein weniger bekannter Preisträger ist die Produktionsfirma Praesens-Film, gegründet 1924 unter anderen vom Flugpionier Walter Mittelholzer, einem der ersten Direktoren der Fluggesellschaft Swissair. Praesens-Film hat mindestens drei Nominationen und drei Oscars auf dem Konto: Bestes Drehbuch für «Marie-Louise» 1945, bester Kinderschauspieler für Ivan Jandl 1948 und bestes Originaldrehbuch für «Die Gezeichneten» 1948.
Schweizer Oscars gab es auch schon in den technischen Kategorien, so etwa für Markus Gross, Informatik-Professor an der Eidgenössischen Technischen Hochschule Zürich (ETH), der 2013 für ein Spezialeffekt-Verfahren ausgezeichnet wurde.
Der in der ersten Auswahl für den besten ausländischen Film im Herbst berücksichtigte Schweizer Spielfilm «Der Kreis» hat es nicht in die «Shortlist» der letzten 5 Nominierten für die Oscarverleihung geschafft.
Die 87. Verleihung der Oscars geht in der Nacht vom 22. auf den 23. Februar Schweizer Zeit in Los Angeles über die Bühne.
Das hat sie getan. Nachdem sie in Baden (Kanton Aargau) ein Diplom als Medizinische Praxisassistentin gemacht hatte, war sie zwei Jahre in diesem Beruf tätig. Bis sich ihre künstlerische Seite wieder bei ihr meldete. Sie absolvierte einen «Vorkurs» an der Schule für Gestaltung in Aarau, machte dann die Berufsmatur in Zürich und begann mit 25 Jahren die Ausbildung an der ZHdK.
Andere Kulturen
Berufswechsel sind unter angehenden Filmemachern nicht ungewöhnlich. «Die Hälfte unserer Studierenden hat zuvor die Berufsmatur abgeschlossen und kommt aus ganz unterschiedlichen Berufsgattungen, von der Informatik bis zur Privatwirtschaft», sagt Bernhard Lehner, Cutter und Leiter des Bachelor-Studiengangs, und damit auch Professor von Talkhon Hamzavi.
Die ehemalige Studentin sei auch bei weitem nicht die einzige mit anderen kulturellen Wurzeln. «Wir haben relativ viele Junge mit solchem Hintergrund», so der Professor. «Vielleicht sind es diese Spannungsverhältnisse, die Menschen zu ihren filmischen Erzählungen anregen.»
Der Ausbildner hält aber auch nicht hinter dem Berg zurück, dass Hamzavi sehr bald schon aus dem Mittelmass herausgeragt habe. «Ihre Arbeiten erreichten immer Bestnoten, was nur bei zwei bis drei Personen pro Klasse der Fall ist. Sie ist eine auffallend ruhige Person, sehr scheu, zurückhaltend. Sie hatte bereits für ihren Bachelor-Film ein sehr starkes Motiv gefunden.»
«Taub» (2010) erzählte die Geschichte eines abdriftenden Ehepaars – Alkohol und Medikamente – und eines Unfalls, der wegen eines irrtümlich durch die kleinen Kinder verabreichten Schlafmittels passierte.
«Tali ist sehr genau und recherchiert viel für ihre Themen», sagt Lehner. «Sie baut ihre Fiktionen auf realistischen Themen auf. Es ist auffällig, dass sie mit ihrer grossen Reserviertheit und Bescheidenheit einen derart schönen Weg beschreitet. Sie theoretisiert nicht und weiss, was sie will. Mit den Mitgliedern ihres Teams versteht sie sich sehr gut.»
Produzent Stefan Eichenberger, der zusammen mit Hamzavi studierte, wie auch viele der anderen Mitglieder ihres Teams, bestätigt: «Sie ist sehr intuitiv und überlegt nicht jahrelang», sagt er. «Man muss lernen, ihr zu vertrauen, denn sie erklärt nicht, warum sie etwas auf eine bestimmte Art machen will.»
«Sehr glückliches» Casting
Eichenberger erinnert sich an schwierige Dreharbeiten. «Wir haben in einem richtigen Asylzentrum gefilmt, in Morschach im Kanton Schwyz, mit echten Menschen, und in der Stadt Zürich, alles in zehn Tagen», erzählt er. Auch wenn eine der beiden Protagonistinnen nicht mehr Schauspielerin ist – die blonde Punkerin, brillant gespielt von Cheryl Graf –, erinnert sich die Casting-Verantwortliche Susan Müller an eine «sehr glückliche» Erfahrung während der Suche nach Schauspielerinnen für den Film.
«Tali hatte eine sehr präzise Idee der Schauspielerinnen, die sie für ihren Film wollte», erzählt Müller. «Zufällig kannte ich Nissa Kashani, die an der ‹Manufacture› in Lausanne studiert hatte und die ich im Jahr zuvor im Rahmen der Plattform ‹Junge Talente› kennenlernen durfte. Ich wusste, dass Nissa ein wenig Deutsch spricht. Ich habe Tali die beiden Schauspielerinnen vorgeschlagen. Sie sagte sehr bald zu, nachdem sie die beiden getroffen hatte.»
«Es ist toll, dass der Film derart weit gekommen ist», freut sich Müller. «Was auch immer dabei herauskommt, es ist bereits ein Erfolg», bekräftigt Lehner. Die ZHdK, die auch durch die Professorin von Stefan Eichenberger in Los Angeles vertreten sein wird, verfolgt die Oscarverleihung live im Kino der Schule. «Wir werden in jedem Fall den Champagner köpfen!», kündigt Lehner an.
In Kalifornien bereitet sich das Team von «Parvaneh» auf die lange Nacht des 22. Februars vor. Die «Oscar-Kampagne» wird finanziell unterstützt durch die Promotions-Agentur «Swiss Films», das Schweizer Fernsehen und das Bundesamt für Kultur (BAK).
Eine eventuelle Statuette im Bereich Fiktion würde sich neben jene einreihen, die Xavier Koller 1991 für seinen Film «Reise der Hoffnung» als besten ausländischen Spielfilm erhalten hatte. Eine solche Reise macht auch Parvaneh im Film von Talkhon Hamzavi, und vielleicht auch die Regisseurin selber in Richtung «Traumfabrik».
Doch sie bleibt, wie sie von Freunden und Kollegen beschrieben wird, bescheiden: «Ich bin daran, meinen ersten Langspielfilm zu schreiben. Das braucht viel Zeit… Ich kann noch nichts dazu sagen.»
(Übertragen aus dem Französischen: Christian Raaflaub)
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch