Eskalation im Fall Tinner
Konfrontation in der Affäre Tinner zwischen Bundesrat und Justiz: Nach einer beispiellosen Hausdurchsuchung bei der Bundeskriminalpolizei, welche die Vernichtung sensibler Akten verhindern soll, verlangt die Schweizer Presse eine Klärung des Chaos.
In den Räumen der Bundeskriminalpolizei und des Bundessicherheitsdienstes wurde laut einer Mitteilung des Eidgenössischen Untersuchungsrichteramts am Donnerstag eine Hausdurchsuchung durchgeführt. Dabei sei mit Unterstützung der Berner Kantonspolizei ein Tresor beschlagnahmt und versiegelt worden.
Der Tresor enthält den Schlüssel zu den umstrittenen Akten des Dossiers Tinner. Die drei Schweizer Ingenieure, die Gebrüder Tinner sowie deren Vater, werden beschuldigt, Nuklear-Material nach Libyen geliefert zu haben. Der Bundesrat will die Dokumente, angeblich aus Sicherheitsgründen, vernichten.
Mit der Aktion soll gewährleistet werden, dass ein Gericht darüber entscheidet, was mit den versiegelten Akten geschehen soll, wie der leitende Untersuchungsrichter Jürg Zinglé erklärte.
Die originalen Dokumente der Akte Tinner sind auf Weisung des Bundesrats bereits früher vernichtet worden. Überraschend tauchten danach aber Kopien der Akten wieder auf. Diese möchte jetzt das Untersuchungsrichteramt vor der neuerlichen Schredderung sichern.
Beschlagnahmung für Regierung «gegenstandslos»
Die Fronten sind zur Zeit verhärteter denn je: Der Bundesrat wiederholte nach der Versiegelung erneut seine Absicht, dieses brisante Material in Übereinstimmung mit der Bundesverfassung zu vernichten. Artikel 185 ermächtigt die Regierung, Massnahmen zu ergreifen, um die äussere Sicherheit, Unabhängigkeit und Neutralität der Schweiz zu bewahren.
Auch nach der Aktion des Eidgenössischen Untersuchungsrichters befänden sich diese Akten nach wie vor ausschliesslich in der Verfügungsgewalt des Bundesrates, heisst es in einer Mitteilung der Landesregierung vom Freitagnachmittag.
In den Schredder geworfen werden sollen die gefährlichsten Dokumente, die Baupläne für Atomwaffen enthalten. Das Justiz- und Polizeidepartement (EJPD) betont, gegen die Verfügung des Bundesrats sei kein Rechtsmittel möglich.
Im Gegensatz zu den angrenzenden Ländern gibt es in der Schweiz keinen speziellen Verfassungsgerichtshof, der beurteilen könnte, ob der Bundesrat befugt ist, die Akten zu vernichten.
Rückendeckung durch Parlament
Das Vorgehen der Justizbehörde wird vom Parlament unterstützt. Die Geschäftsprüfungsdelegation (GPDel) des Parlamentes hatte die Vernichtung als rechtswidrig bezeichnet und vom Bundesrat verlangt, dass im Verfahren gegen die Tinners sämtliche Akten eingesehen werden können.
GPDel-Vizepräsident Pierre-François Veillon bekräftigte diesen Entscheid gegenüber dem Westschweizer Radio RSR.
Für das Parlament sei auch nicht nachvollziehbar, warum der Bundesrat die Empfehlungen der Internationalen Atomenergieagentur (IAEA) nicht befolgt habe. Diese habe sich für strenge Sicherungsmassnahmen der Unterlagen ausgesprochen, im Hinblick auf das laufende Strafverfahren aber deren Erhaltung befürwortet, so Veillon.
Die Presse kritisiert
In den Kommentaren der Schweizer Zeitungen vom Freitag ist eine gewisse Beunruhigung zu spüren. Verlangt wird insbesondere eine Klärung der verworrenen Rechtslage.
Unter dem Titel «Klären, wer Recht hat», schreibt die Aargauer Zeitung: «Vielleicht hat der Bundesrat aber auch im höheren Interesse gehandelt. Und vielleicht hat er Gründe, seine Argumente dafür der Öffentlichkeit zu verschweigen.» Deshalb müsse nun eine höhere Instanz entscheiden, wer Recht habe – das oberste Gericht oder eine Parlamentarische Untersuchungsbehörde (PUK).
Die beiden Westschweizer Blätter 24 heures und Tribune de Genève sprechen die politsche Dimension des Konflikts an: «Die Hausdurchsuchung bei der Bundespolizei ist nichts anderes als ein Scharmützel zwischen den drei Gewalten Justiz, Parlament und Bundesrat.»
Für die Berner Zeitung ist eine Erklärung bitter nötig, die anstehenden Fragen müssten schleunigst geklärt werden, denn «ein derart heftiges Zerwürfnis zwischen Exekutive und Judikative kann sich die Schweiz nicht leisten. Profitiert sie doch wie kaum ein anderes Land von der gesellschaftlichen, politischen und eben auch juristischen Stabilität – gerade in Zeiten der globalen Finanzkrise».
Bundesrat im Machtwahn
Seit Wochen verweigere der Bundesrat der Justiz und der parlamentarischen Oberaufsicht in der Causa Tinner jegliches konstruktive Gespräche, schreiben der Berner Bund und der Zürcher Tages-Anzeiger:
«Beschämend, dass nicht einmal der richterlich legitimierte Polizeiaufmarsch diesen Bundesrat in die machtpolitische Realität zurückzwingen konnte. Die sieben Machtversessenen glauben wohl tatsächlich, sie seien die Herrscher über die Bürger dieses Landes. In Wahrheit sind sie deren Dienstleister.»
Die Neue Zürcher Zeitung spricht von einem «ernsthaften Konflikt mit Blick auf die Gewaltentrennung». «Es stellt sich nämlich die Frage, wem der Vorrang zukommt: der Regierung oder der Justiz.»
Laut dem Kommentator der Neuen Luzerner Zeitung hat die Aktion vom Donnerstag immerhin etwas Beruhigendes: «Sie zeigt, dass die Gewaltentrennung in der Schweiz funktioniert. Es ist der Beweis, dass die Justiz sich notfalls auch gegen einen Regierungsentscheid durchsetzt, und das auf höchster, eidgenössischer Stufe.»
Gaby Ochsenbein, swissinfo.ch
Die Schweizer Brüder Urs und Marco Tinner und deren Vater Friedrich werden beschuldigt, in den Jahren 2001 bis 2003 für das Atomschmuggel-Netzwerk von Abdul Qader Khan, dem «Vater der pakistanischen Atombombe», gearbeitet zu haben. Dieser führte ein geheimes Atomwaffenprogramm für Libyen durch.
Die Affäre flog Anfang 2004 auf, nachdem Libyen sein Atomwaffen-Programm eingestellt und Khan die illegalen Atomgeschäfte mit Iran, Libyen und Nordkorea zugegeben hatte.
In einem Punkt sind sich die politischen Parteien beim Schlagabtausch um die Tinner-Akten einig: Der Konflikt sei zu einer bedenklichen Posse verkommen. Die Schweizerische Volkspartei (SVP) bezeichnet ihn als Schildbürgerstreich».
Nur die Grünen haben bislang eine Parlamentarische Untersuchungskommission (PUK) gefordert.
Die Freisinnige-demokratische Partei (FDP) mahnt zur Besonnenheit: Das Vertrauen in den Bundesrat und die Behörden sollte nicht mit vorschnellen Vorwürfen geschwächt werden.
Die Christlichdemokraten (CVP) betrachten die Widersetzung gegen das Bundesstrafgericht als Missachtung der Gewaltenteilung. Dies tangiere den Rechtsstaat.
Die Sozialdemokraten (SP) erachten die Sicherung der Akten als richtig. Das Bundesgericht habe bereits im letzten Sommer festgestellt, dass der Bundesrat bei seinem Entscheid, die Akten im Fall Tinner zu vernichten, auf Geheiss der CIA agiert habe.
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