Wie Vevey sein monströses Winzerfest stemmt
Die Fête des Vignerons: Alle 20 bis 25 Jahre findet in Vevey am Genfersee das traditionelle Winzerfest statt. Die Organisation des dreiwöchigen Grossanlasses ist eine riesige Herausforderung, werden doch insgesamt eine Million Besucher erwartet. Damit liegt das traditionelle Volksfest in der Liga des Karnevals von Rio.
Mitten auf dem Marktplatz von Vevey am Ufer des Genfersees steht sie da, die Freiluftarena mit ihren 20’000 Sitzplätzen. Sie wirkt wie ein gigantisches Raumschiff, das vom Himmel herabgeschwebt ist.
Ihre markanten Dekorationen in den Farben rot, gelb, grün und braun machen sie zum auffälligsten Element der bevorstehenden Fête des Vignerons. Dieses wird in der französischsprachigen Westschweiz ungefähr alle 20 Jahre veranstaltet – viermal in einem Jahrhundert.
Vom 18. Juli bis am 11. August werden voraussichtlich eine Million Besucher erwartet, die an das diesjährige Fest kommen wollen, um die Tradition des Weinanbaus in den Regionen Lavaux und Chablais zu feiern.
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Daniele Finzi Pasca versprüht seine Magie für die Fête des Vignerons
Seit seinen bescheidenen Anfängen als jährliches Gassenfest im 17./18. Jahrhundert hat sich der privat finanzierte Anlass zu einem einzigartigen Erlebnis entwickelt. Das dreiwöchige Fest, das von der örtlichen Winzerzunft, der Confrérie des Vignerons, organisiert wird, ist heute ein Spektakel, bei der traditionelle Lieder, Tanz und modernes Theater vereint werden.
Daniele Finzi Pasca, der Direktor der Eröffnungs-Zeremonien der Olympischen Winterspiele von Sotschi und Turin (2014 resp. 2006), inszeniert täglich eine zweistündige Bühnenshow mit über 7000 lokalen Schauspielern, Sängern und Musikern.
Fast alle davon machen unentgeltlich mit. Anschliessend geht die kostümreiche Aufführung in den Strassen und Lokalen der Stadt weiter. Dort scheint, zumindest teilweise, die Zeit stillgestanden zu sein, denn auch heute noch werden viele der Traditionen so gefeiert wie vor 200 Jahren.
Komplexer denn je
Historische Feiern sind nicht billig. Da erstaunt es nicht, dass über die Jahre hinweg sowohl die Veranstaltung selber wie auch das Budget stetig gewachsen sind. Das diesjährige Festival wird nicht weniger als 100 Millionen Franken verschlingen. Das ist fast das Doppelte der letzten Veranstaltung von 1999.
«Das Fest war schon immer gigantisch. Im 18. und 19. Jahrhundert dauerte es ein halbes Jahr, das Ganze auf die Beine zu stellen», erzählt Frédéric Hohl, Geschäftsführer des Winzerfests, «Dieses Jahr haben wir zwar ebenfalls sechs Monate für den Aufbau benötigt, aber die Komplexität hat ja schliesslich auch zugenommen.»
Die steigenden Kosten seien teilweise auf ausgeklügelte Produktionstechniken zurückzuführen, sagt er. «1999 gab es nur eine Bühne. Unterdessen haben wir fünf davon in einer einzigen Arena. Das bedeutet fünf verschiedene Licht- und Toneinstellungen und fünfmal so viele Techniker «, erklärt Hohl.
Der Bau der Arena kostete 13 Millionen Franken, Licht und Ton machten dabei rund 12 Millionen aus.
Acht 32 Meter hohe Säulen mit 400 Lautsprechern sind im gesamten Stadion verteilt. Es besitzt ausserdem den grössten LED-Boden der Welt. Auf das 1000 Quadratmeter grosse, interaktive Bodensystem können Bilder projiziert werden, die fünfmal grösser sind als diejenigen beim US Super Bowl oder dem Eurovision Song Contest.
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Reise in ein märchenhaftes Universum
Ökologie gegen Ökonomie
In diesem Jahr mussten sich die Veranstalter auch mit zusätzlichen Umweltschutzanforderungen auseinandersetzen. Rund 95% der während des Festivals verwendeten Materialien sind rezyklierbar, können also anschliessend weiterverkauft oder wiederverwendet werden. Zudem wurden besondere Massnahmen getroffen, um das Ökosystem im Genfersee aufrecht zu erhalten.
«1999 musste man nur einen Brief an den kantonalen Wasserdienst schicken, um die Erlaubnis zum Bau einer Terrasse auf dem See zu erhalten», erinnert sich Daniel Willi; Leiter der Festival-Infrastruktur, gegenüber der Zeitung 24heures. «Dieses Mal mussten wir eine öffentliche Untersuchung beantragen, um die Wasserfauna und -flora vor Ort begutachten zu lassen. Zu diesem Zweck wurden uns Taucher vorbeigeschickt.»
Infolgedessen trieb man rund 260 Holzpfähle mittels spezieller Vibrationstechnik in den Seeboden. So bleiben das Wasser unbelastet und die darin lebenden Fische ungestört. Die Pfeiler stützen nun eine riesige Seeterrasse mit Restaurants und Bars neben der Arena.
Falls Steine unter Wasser bewegt wurden, musste dies akribisch festgehalten werden, da sie nach Anlassende wieder an ihren Ursprungsort zurückgelegt werden müssen. Die umweltschonenden Massnahmen kosten rund zwei bis drei Millionen Franken.
Schlacht um Strassenpacht
Im vergangenen Jahr schlug sich die Komplexität der Festivalorganisation in langen und schwierigen Verhandlungen zwischen der Confrérie und den Behörden von Vevey wider. Sie trafen schliesslich eine Vereinbarung, bei der sich die Gilde bereit erklärte, drei Millionen Franken für die Anmietung des Marktplatzes zu bezahlen. In diesem Betrag sind zudem andere öffentliche Eigentümer und Dienstleistungen sowie eine Entschädigung für die lokalen Unternehmen enthalten. Zusätzlich musste viel Geld in Sicherheitsmassnahmen investiert werden.
«Die Erwartungen der lokalen Behörden und Sicherheitsspezialisten sind viel höher als noch vor 20 Jahren. Die weltweiten Terroranschläge führen zu einem totalen Paradigmenwechsel, der alles teurer macht», sagt François Margot, der Abbé-Präsident der Confrérie.
Die Fêtes des Vignerons
Die insgesamt erst 12. Ausgabe der Fêtes des Vignerons findet vom 18. Juli bis am 11. August statt. Die Eintrittskarten für eine von 18 Vorstellungen variieren zwischen 79 und 359 Franken. Die Arena fasst 20’000 Zuschauer. Über 5500 Schauspieler, 900 Sänger und 240 Musiker nehmen an den jeweils zweistündigen Shows teil.
Die Veranstaltung hat ein Budget von 100 Millionen Franken. Täglich werden rund 40’000 Menschen erwartet – 19’500 Zuschauer in der Arena, 10’000 Freiwillige und Mitarbeiter, sowie 10’000 weitere Besucher. 2016 wurde das Winzerfest zum UNESCO-Weltkulturerbe erklärt.
Alles summiere sich. Egal, ob es darum gehe, Ingenieure einzustellen, 1000 mobile Toiletten zu mieten oder die 6000 Kostüme zu bezahlen, die in Italien hergestellt worden seien.
«Im Vergleich zu vor 20 Jahren haben wir für alles einen Kostenanstieg von 25% veranschlagt», sagte Hohl.
Auch hier: Freiwillige finden sich schwerer
Ein kontrollierbarer Kostenpunkt ist der Personalaufwand. Dieser wurde auf ein Minimum reduziert, da die meisten der 10’000 Arbeiter und Showteilnehmer unbezahlte Freiwillige sind – und somit das Herzblut des Festivals verkörpern. Es war jedoch eine weitere Herausforderung, Helfer mit den gefragten Know how zu finden.
Die Feierlichkeiten haben noch immer eine starke Anziehungskraft auf Freiwillige aus der Region. Allerdings bemerken die Organisatoren auch, , dass die Verfügbarkeit der Menschen abnimmt. Ebenso sind die örtlichen Unternehmen weniger bereit, Mitarbeitenden einen freien Tag zu gewähren, um mitzuhelfen zu können.
«1999 gaben Nestlé und einige lokale Banken den Managern einmal in der Woche einen Nachmittag frei, um für das Festival zu arbeiten. Das war ihr Beitrag zum Gelingen der Veranstaltung. Aber die Geschäftspolitik hat sich in 20 Jahren verändert», sagt Sabine Carruzzo, Generalsekretärin des Confrérie.
«Es ist viel professioneller geworden, da viele Jobs, die zuvor von Freiwilligen erledigt wurden, jetzt an Profis vergeben worden sind. Unter anderem auch, weil die Menschen weniger Zeit haben.»
Opfer des eigenen Erfolgs
Um den Monster-Event zu finanzieren und gleichzeitig den anvisierten Gewinn von sechs Millionen Franken zu gewährleisten, müssen die Organisatoren eine weitere Woche Shows veranstalten und 110’000 Tickets mehr verkaufen.
Andernfalls könnte die Gilde die nächsten 20 Jahre nicht überstehen, da die zusätzlichen Kosten ungedeckt blieben. Firmensponsoren wie Nestlé und die Fluggesellschaft Swiss beteiligen sich mit der Übernahme von rund 20% der Gesamtkosten.
In diesem Jahr wird jeder Aufführungstag einem anderen Schweizer Kanton gewidmet und dieser mit einer eigenen Darbietung gewürdigt. Das Ereignis wurde stark in der deutschsprachigen Schweiz und im Ausland beworben – insbesondere in den USA, Frankreich und Deutschland.
«Wenn Sie einem Finanzberater unseren Geschäftsplan vorlegen würden», lacht Hohl, «würde dieser Ihnen sagen: ‹Nein, nein, tun Sie das nicht, Sie sind verrückt!'»
(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)
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