Der Animationsfilm wird erwachsen – auch im Westen
Während Hollywood Animationsfilme hauptsächlich als lustige Unterhaltung versteht, nutzen Studios in Asien und Europa das Medium für ernste, komplexe Themen – auch für Kinder. Cinzia Angelini und Pascal-Alex Vincent, die am Animationsfilm-Festival Fantoche in der Schweiz zu Gast sind, erklären, wie sich die Industrie wandelt.
Trento, eine malerische Kleinstadt in Norditalien, es ist Dorffest, im Jahr 1945. Man hört das Lachen der Kinder und die fröhliche Musik des Karussells. Plötzlich mischt sich ein neues Geräusch dazu: Sirenen heulen auf. Der Himmel verfinstert sich. Bald wird klar, wovor die Sirenen warnen: Eine Flotte Kampfflugzeuge erscheint am Horizont. Sie kommt näher, unaufhaltsam. Bomben fallen, Wände zerbersten, Dächer gehen in Flammen auf und Brücken brechen zusammen.
Das ist der Einstig in einen Kriegsfilm. Doch was an diesem Kriegsfilm besonders ist: Er richtet sich an Kinder. Doch wie adressiert man mit einem derart düsteren Thema ein junges Publikum, ohne es zu überfordern?
Mehr
Newsletter
Es hilft, dass es sich um einen Animationsfilm handelt: «Die Magie von Animation ist, dass man damit alles machen kann: Man kann sehr brutal oder sehr sanft sein», erklärt Cinzia Angelini, die Regisseurin des Kurzfilms im Gespräch mit SWI swissinfo.ch. «Man kann auch sehr poetisch sein und Kindern ein schwieriges Thema und schwierige Bilder auf eine Art und Weise nahebringen, die im Realfilm vielleicht zu hart wäre.» Eine Stärke des Animationsfilms, die laut Angelini zu selten genutzt wird.
Schwierige Themen auch Kindern zugänglich machen
Der Film namens «Mila» ist ein Herzensprojekt der Italienerin. Am Internationalen Festival für Animationsfilm Fantoche im Städtchen Baden in der Schweiz spricht sie über den Entstehungsprozess. Mila erzählt eine sehr persönliche Geschichte, sie ist inspiriert von den Erinnerungen von Angelinis Grossmutter aus dem zweiten Weltkrieg. Noch heute leiden viele Kinder unter den Kriegen der Erwachsenen und müssen ähnliche Erfahrungen machen wie ihre Grossmutter – darauf will Angelini aufmerksam machen.
PLACEHOLDERDoch laut der Regisseurin sehen die grossen Studios Animationsfilme noch zu stark als simple Unterhaltung und scheuen davor zurück, komplexen Fragen zu stellen: «Die grossen Studios in Hollywood sind eher konservativ. Sie haben ihre Erfolgsformel, und daran halten sie sich natürlich.» Angelini muss es wissen – sie hat in ihrer Karriere für beinahe alle wichtigen Animationsstudios in Hollywood gearbeitet.
Mit «Mila» ist sie bei den Big Playern trotzdem abgeblitzt, als sie das Projekt vor beinahe zehn Jahren in Angriff nahm. Sie hat den Film mithilfe von Freiwilligen gestemmt, bevor sie die Unterstützung von UNICEF Italia erhielt und schliesslich das aufstrebende Studio Cinesite doch noch die Unterstützung zusagte. Angelini sieht darin einen klaren Hinweis darauf, dass sich in der Szene doch etwas tut.
Hollywood scheut das Risiko
«Die grossen Studios machen lustige, unterhaltsame Filme und das ist grossartig! Aber bei einem von zehn Filmen kann man auch mal etwas riskieren und etwas produzieren, das ein bisschen anders ist, das schwierigere Themen anspricht und das volle Potenzial der Animation ausschöpft.»
«Die Animationfilm-Welt ist insbesondere im Westen immer noch sehr zurückhaltend, wenn es darum geht, neue Dinge auszuprobieren» sagt auch Regisseur Pascal-Alex Vincent.
Vielfältige, tiefschürfende Themen oder eine erwachsene Zielgruppe sind in der Animationsfilm-Welt keine Neuheit, erreichten aber lange nur ein Nischenpublikum. Jahrzehntelang dominierte Disney den weltweiten Markt. «In den neunziger Jahren kam Ghibli, und alles änderte sich», erinnert sich Vincent.
Das japanische Studio erreichte mit komplexen, anspruchsvollen Kinderfilmen ein weltweites Publikum und machte damit eine Menge Geld. «Ghibli hat verändert, was wir unter Animation verstehen», ist Vincent überzeugt. Ghibli präsentierte plötzlich vielschichtige Charakteren, ohne klares gut-gegen-böse Narrativ, das man von Disney kannte und griff Themen auf wie Umweltverschmutzung, Krieg und Depressionen. «Es gab die Disney-Ära und dann die Ghibli-Ära, und vielleicht sind wir auf dem Weg zu einer Ära, in der Animationsfilme für Erwachsene sich durchsetzen.»
Doch ein solcher Wandel braucht Zeit, grosse künstlerische Risiken gehen auch schnell ins Geld, besonders im Animationsfilm: Die Produktion ist sehr aufwändig, braucht ein grosses, talentiertes Personal und viel Geduld.
Die grösseren Produktionsstätten für Animationsfilme in Europa, Japan oder Korea trauten sich bereits an ernstere Themen heran, beobachtet Angelini. In Hollywood sieht sie vor allem unter den neuen Playern vielversprechende Ansätze: «Plattformen wie Amazon und Netflix haben in den letzten Jahren einen großen Beitrag dazu geleistet, dass die Erzählung erwachsener, ernster und anders wird. Ich hoffe, dass das so weitergeht.»
Filme brauchen eine Vision
Was Angelini sich von der Animationsfilm-Industrie wünscht, setzte Satoshi Kon schon vor 20 Jahren um: Er nutzte die Grenzenlosigkeit der Animation, um sehr persönliche, sehr reale Themen zu behandeln. Allerdings richtete er sich damit im Gegensatz zu Angelini explizit an ein erwachsenes Publikum. Vincent stellt am Fantoche seinen Dokumentarfilm über den bahnbrechenden japanischen Anime-Filmemacher vor.
PLACEHOLDERKon starb 2010 im Alter von 46 Jahren überraschend an Bauchspeicheldrüsen-Krebs. Doch die Filme, die er in diesem kurzen Leben hinterliess, inspirieren noch heute Filmemacher:innen auf der ganzen Welt, von aufstrebenden Anime-Talenten in Japan bis hin zu Star-Regisseuren wie Darren Aronofsky oder Christopher Nolan.
Kon vermischte dabei gerne die Grenzen zwischen Realität und Traum, zwischen Realität und Fiktion oder zwischen Realität und der virtuellen Welt. Animation ist dafür das ideale Medium, und eigentlich ist das ganz nahe an unserem echten Leben im 21. Jahrhundert: «Ich bin Professor und sehe, dass alle meine Studenten ihre Handys ständig in der Hand haben. Es ist, als ob sie hier ein anderes Leben hätten. Sie können mit Ihnen sprechen, während sie ein anderes Leben am Telefon haben», so Vincent.
>> Im Film Paprika von Satoshi Kon verschwimmen die Grenzen zwischen Realität, Traum und digitaler Welt:
PLACEHOLDER«Was seine Filme wirklich real erscheinen liess: Satoshi Kon hatte eine starke Intuition dafür, wie die Welt in den kommenden Jahren mit moderner Technologie funktionieren würde», erklärt sich Vincent das Phänomen. «Er war jemand, der eine Vision hatte. Wenn man eine Vision hat, und wenn diese Vision akkurat ist, wird sie sich immer real anfühlen.»
In Übereinstimmung mit den JTI-Standards
Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!
Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch