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Auf der Suche nach der jüdischen Identität

Backstage-Szene von Fiddler On The Roof
Der Schauspieler Zero Mostel (Mitte), der Tevye in dem Musical "Fiddler On The Roof" darstellt, posiert hinter der Bühne mit Darstellerinnen nach der Eröffnungsvorstellung des Stücks im Imperial Theatre in New York City am 22. September 1964. Das Stück, das auf Sholem Aleichems Roman "Tevye The Dairyman" von 1901 basiert, und seine nachfolgende Verfilmung von 1971 prägten die alte "Schtetl"-Romantik (jüdisches Dorf) und machten viele seiner Lieder, wie "If I Were A Rich Man", zu populären Hits. Der Dokumentarfilm "Fiddler - Miracle Of Miracles" beleuchtet die Schwierigkeiten, dieses nostalgische Musical weniger als 20 Jahre nach dem Holocaust zu produzieren. 1964 Ap

Das "Yesh!"-Filmfestival in Zürich ergründet auf vielfältige Weise die jüdische Identität. Und lässt dabei die Palästinenserinnen und Palästinenser nicht ausser Acht.

Die Frage nach der jüdischen Identität steht im Zentrum des Zürcher Filmfestivals «Yesh!»Externer Link, das bis am 10. Juni in Zürich über die Bühne geht. 32 Werke aus den Genres Drama, Komödie, Dokumentation und Horror werden während der einwöchigen Veranstaltung gezeigt. Produziert wurden sie in Europa, Südamerika und im Nahen Osten.

In den Filmen werden vergangene und gegenwärtige Traumata aufgearbeitet. Der jüngste Gewaltausbruch zwischen Israelis und Palästinensern weckte die üblichen Geister des Dauerkonflikts. «The Vigil» (Keith Thomas, USA, 2019) lässt viele dieser Geister in Form eines Horrorfilms auf kreative Weise auferstehen.

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In «The Dead of Jaffa» (Ram Loevy, Israel, 2019) stehen ganz reale Schrecken im Zentrum. Thematisiert wird die Vertreibung der Palästinenser und die Unabhängigkeit Israels.

Während den Israelis die Ereignisse von 1947-49 als Unabhängigkeitskrieg in Erinnerung bleiben, sind sie im Gedächtnis der Palästinenser als Nakba («Katastrophe») eingebrannt.

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Yesh! – das ist Hebräisch und heisst so viel wie «toll!» oder «geschafft!» – gibt auch den Palästinenserinnen und Palästinensern eine Stimme. Zum Beispiel mit «Gaza mon amour» (2020) der Zwillingsbrüder Arab und Tarzan Nasser.

Diese palästinensisch-französisch-deutsche Koproduktion zeigt, dass das jüdisch-israelische Schicksal untrennbar mit dem der Palästinenser verbunden ist. Es ist eine zarte Liebesgeschichte, die zwischen der israelischen Blockade und den strengen Kontrollen der Hamas im Gazastreifen zerrieben wird.

Da die Nasser-Brüder im französischen Exil leben, wurde der Film in Jordanien und Spanien gedreht. Mit dabei ist auch die Grande Dame des palästinensischen Films, Hiam Abbass. Ihre Karriere, die man schon fast als nomadisch bezeichnen könnte, umfasst arabische, israelische («Lemon Tree»), französische und amerikanische Produktionen («Blade Runner 2049»).

Filmstill aus Gaza mon amour
Salim Dau und Hiam Abbass in einer Szene von «Gaza mon amour». Yesh! Filmtage

Schatten der Vergangenheit

Es ist wenig überraschend, dass viele der gezeigten Werke Dokumentationen und Biografien sind, die sich mit der jüdischen Geschichte des 20. Jahrhunderts auseinandersetzen. Der Schweizer Schauspieler Bruno Ganz (1941-2019) verkörpert in seinem letzten Film den Holocaust-Überlebenden Georg Goldsmith, der in der deutsch-dänischen Koproduktion «Winterreise» (Anders Østergaard, 2019) mit seiner Vergangenheit abrechnet. Die Dialoge basieren auf Interviews mit dem realen Goldsmith, illustriert durch Re-Enactments und dokumentarisches Filmmaterial.

Die historischen Filme spannen einen grossen geografischen Bogen von Deutschland und der Schweiz über die Ukraine, die Ex-Tschechoslowakei, Polen und Ungarn bis in die USA und machen deutlich, dass das jüdische Drama nicht aus den Narrativen der europäischen Nationalstaaten herausgelöst werden kann. So wie auch das palästinensische Element nicht aus der israelischen Geschichte getilgt werden kann.

Der Dokumentarfilm «Golda» erzählt von der ehemaligen israelischen Premierministerin Golda Meir, einer Ikone der zionistischen Bewegung,. Deren unglückliche Äusserung, dass es «so etwas wie Palästinenser nicht gibt», hallt immer noch in den nationalistischen Mobs nach, die jüngst vielerorts in Israel antiarabische Parolen skandierten.

Hinzu kommen die evangelikalen Christeninnen und Christen aus den USA und ihre unerschütterliche Hingabe an den Staat Israel. Regisseurin Maya Zinshtein folgt in «Til Kingdom Come» einer Gruppe von fanatischen Evangelikalen in Kentucky, deren Verstrickungen bis ins politische Machtzentrum der USA reichen.

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Menschliches Kino

Das israelische Kino spielt eine wichtige Rolle im Kampf gegen extremistische Tendenzen. Es stellt sich gegen Bestrebungen, die Palästinenser zu entmenschlichen und deren Ansprüche auf Gerechtigkeit unter der Besatzung zu delegitimieren oder zumindest ein gewisses Mass an fairer Behandlung zuzulassen in einem Land, das kürzlich von Human Rights Watch als Apartheidstaat verurteiltExterner Link wurde.

Der israelisch-palästinensische Konflikt wird aber fast spürbarer, wenn er nicht direkt angegangen wird. So wie das der erfahrene Filmemacher Amos Gitai gemacht hat. Sein Film «A Tramway in Jerusalem» (2018) dokumentiert das Leben entlang einer Strassenbahnlinie, die jüdische Viertel mit dem arabischen Stadtteil verbindet. An diesem Weg geschehen allerlei persönliche Dramen. Die poetische Vermenschlichung der religiösen Vielfalt im Heiligen Land ist eine mächtige Waffe des Widerstands.

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In Israel gibt es noch andere gesellschaftliche Bruchlinien, die ebenfalls thematisiert werden: Homosexualität versus Tradition und Rassismus («Kiss me Kosher», «Douze Points») oder die postsowjetische russische Einwanderung («Golden Voices»).

Ernste Werke stehen Seite an Seite mit harmloseren romantischen Komödien («Honeymood», «Love In Suspenders») und, zur Abwechslung, einem schaurigen Spionagethriller («The Operative»).

Szene aus Douze Points
Der israelische Film «Douze Points» spielt mit einem total identitären komischen Mischmasch: Ein schwuler muslimischer französischer Sänger verstrickt sich während des Eurovision Song Contest in Tel-Aviv in ein Komplott des Islamischen Staats. Der Mossad konnte natürlich nicht aus dem Plot ausgelassen werden. Yesh! Filmtage

Die «wandernden Juden»

In der Diaspora, wo sich das jüdische Erbe mit der Gastkultur vermischt, wird die Identitätsfrage sehr komplex. Dort ist es unmöglich, von einer «jüdischen Identität» per se zu sprechen. Ein altes Sprichwort sagt: Bring zehn Juden zusammen, und du wirst elf verschiedene Standpunkte zu hören bekommen.

2000 Jahre Verfolgung, Nomadentum, Anpassung und Selbstbehauptung haben tiefe Risse in das soziale, politische und kulturelle Gefüge des Judentums geschlagen. Die antisemitische Propaganda der letzten zwei Jahrhunderte beschwor das Bild einer jüdischen Kabale herauf, welche von der Finanzwelt über Hollywood bis hin zu politischen Revolutionen alles kontrolliert.

Die Juden waren immer schuld: an Seuchen, Erdbeben, am Elend der Armen und an den Albträumen der Reichen. Wahrscheinlich haben es all diese Fantasien fast unmöglich gemacht, zu definieren, was eine Jüdin, einen Juden so sehr von anderen Menschen unterscheidet.

Die Frage nach der jüdischen Identität in der Diaspora darf auf dem Festival natürlich nicht fehlen. Sie wird vor allem aufgeworfen in den deutschen Filmen «Frau Stern» (Anatol Schuster, 2019), über eine 90-jährige Holocaust-Überlebende, und «Das Unwort» (Leo Khasin, 2020), über Rassismus unter Einwandererkindern.

Aktuelle gesellschaftliche Gegensätzlichkeiten im Zusammenhang mit Identitätsfragen stehen auch im Mittelpunkt des italienischen Werks «Du sollst nicht hassen» (Mauro Mancini, 2020).

Szene aus Frau Stern
«Frau Stern» ist eine Holocaust-Überlebende und Witwe. Jetzt, mit 90 Jahren, hat sie genug vom Leben. Doch all ihre Versuche, sich umzubringen, scheitern und führen zu einer deftigen, süss-sauren Komödie. Yesh! Filmtage

Und da ist auch noch «Babenco» von Barbara Paz (Brasilien, 2019), ein Dokumentarfilm über den argentinischen Filmemacher Hector Babenco. Seine jüdische Herkunft erklärt zumindest teilweise Babencos Rolle als ewiger Aussenseiter. Es ist eine Charaktereigenschaft, die er genoss und die ihm auch die Freiheit gab, ein sehr abwechslungsreiches Werk zu schaffen, das sich mit ernsten sozialen Themen auseinandersetzt.

Es ist unmöglich, Babencos Stil auf einen Nenner zu bringen. Der Regisseur von «Pixote» (1980), «Kiss Of The Spider Woman» (1985), «Ironweed» (1987, mit Jack Nicholson und Meryl Streep) und anderen Filmen fühlte sich weder in seiner argentinischen Heimat noch in Europa wohl, wo er in seiner Jugend herumreiste. Selbst in seiner Wahlheimat Brasilien galt er stets als Fremder, der in der internationalen Szene sowohl geschmäht als auch bewundert wurde.

Barbara Paz, Babencos Witwe, hat ihn während seiner letzten Lebensjahre gefilmt, ermutigt durch den Regisseur selbst. Es ist ein filmisches Zeugnis seines Kampfs gegen den Krebs durch seine Liebe zum Kino.

Und eine endgültige Erinnerung daran, dass Jüdinnen und Juden jenseits der identitären Etiketten von Religion, Tradition und ethnischer Zugehörigkeit einfach komplexe menschliche Wesen sind wie alle anderen auch.

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(Übertragung aus dem Englischen: Christoph Kummer)

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