Filmtage im Zeichen grosser «Manipulation» des Bundes
Mit der Vorführung von "Manipulation" von Regisseur Pascal Verdosci haben am Donnerstag die 46. Solothurner Filmtage begonnen. Gast am sehr politischen Auftakt war nicht nur Hauptdarsteller Klaus Maria Brandauer, sondern auch Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey.
Es war der Tag, an dem dank Wikileaks bekannt wurde, dass es nicht pure Nächstenliebe war, aus der die Schweiz im letzten Jahr zwei uigurische Guantanamo-Häftlinge aufnahm.
Vielmehr soll Bern mit der humanitären Geste in Washington gut Wetter gemacht haben, damit die USA im Steuerstreit mit der UBS einer Vertragslösung zustimmten. Dank dieser konnten die Schweiz und die Grossbank ihr Gesicht wahren. Und das Bankgeheimnis. Zumindest mehr oder weniger.
War es Zufall oder böse politische Ironie, dass der Eröffnungsfilm, zu dem auch die Schweizer Bundespräsidentin geladen war, ausgerechnet von einer grossen politische Manipulation unter der Bundeshauskuppel handelte? Mehr zum Film «Manipulation», der die Zuschauer in die Zeit der 1950er-Jahre mit ihrem dumpfen Antikommunismus entführt, später. Bleiben wir vorerst bei der Gegenwart.
Innenministerin Doris Leuthard dementierte am Donnerstag umgehend einen Zusammenhang zwischen der Gefangenen-Aufnahme und dem Zustandekommen des Staatsvertrag zur Beilegung des Steuerstreits.
Worte, gesagte und nicht gesagte
Der Eröffnungstag stand ganz im Zeichen des roten Teppichs, auf dem in Solothurn unter anderem der Schauspielstar Klaus Maria Brandauer emfpangen wurde.
Direktor Ivo Kummer, dessen Festival vom Bund neu in den Rang einer Institution erhoben wurde, freute sich in seiner Rede über den jüngsten Aufschwung der siebten Kunst in der Schweiz. 2011 sei ein entscheidendes Jahr betreffend Schweizer Filmpolitik, sagte Kummer, der aufgrund der Aufwertung der Filmtage nun nicht mehr jährlich um einen Bundesbeitrag nachsuchen muss.
Auf der Traktandenliste stehen der Parlamentsentscheid darüber, welches Gewicht die Filmförderung innerhalb der Kulturpolitik des Bundes künftig haben soll. Dazu muss der neue Filmchef im Bundesamt für Kultur ernannt und der audiovisuelle Pakt mit dem neuen Generaldirektor der SRG SSR über die Filmförderung neu ausgehandelt werden.
Maliziöser Übergang
Kummer leitete charmant zur Rede des hohen Gastes aus der Regierung über. «Man erkennt Politikerinnen und Politiker daran, was sie sagen, aber noch vielmehr an dem, was sie nicht sagen», so Kummer. «Ich freue mich, das Wort an Bundespräsidentin Micheline Calmy-Rey zu übergeben und bin gespannt darauf, was sie uns nicht sagen wird.»
Zum Kino gehörten Glitzer, Glamour und Stars, das politische System der Schweiz dagegen sei auf Kollegialität gebaut, sagte Calmy-Rey.
Die Schweiz müsse ihre Beziehungen zum Ausland stärken, insbesondere zu den europäischen Nachbarn. «Die Schweiz muss dort präsent sein, wo die wichtigen Entscheide über die Zukunft des Planeten gefällt werden.»
Diesem Ziel wolle sie sich in ihrem Präsidialjahr widmen, versprach die Bundesrätin. Wieder zur Kunst auf der Leinwand zurückführend wünschte sich Calmy-Rey, dass der Film dazu beitrage, dass die Schweiz ihre Präsenz auf dem Radar der Welt stärken könne.
Fäden der Macht in der Hand
Doch vom Rednerpult im Saal der Solothurner Reithalle zurück auf die Leinwand: «Manipulation» spielt 1956, es ist die Zeit des Kalten Krieges. In den Räumen des Schweizer Spionageabwehr verhört Spezialagent Rappold (Klaus Maria Brandauer) einen gewissen Harry Wind (Sebastian Koch). Dieser, obwohl Präsident der «Nationalen Verteidigungsorganisation» hoher Offiziere, wird der Spionage zugunsten der Sowjetunion verdächtigt.
Ist die Figur des Doktor Harry Wind aber tatsächlich ein Spion? Der PR-Berater bezeichnet sich als lieber «Experimentierer». Im Katz-und-Maus-Spiel mit dem manipulativen Geschichten-Erfinder Wind realisiert Bundespolizist Rappold, dass er selbst Teil eines Komplotts ist.
Mit «Manipulation» hat der Freiburger Regisseur Pascal Verdosci den Roman «Das Verhör des Harry Wind» verfilmt. Der Klassiker der jüngeren Schweizer Literatur stammt von Walter Matthias Diggelmann aus dem Jahr 1962.
«Es ist ein sehr wichtiger und politischer Film», sagte Ivo Kummer, denn das Genre der Politfilme sei im aktuellen Schweizer Filmschaffen nur schwach vertreten. Wegen der Anwesenheit von Bundespräsidentin und weiterer Politikerinnen und Politiker eigne sich «Manipulation» sehr gut als Eröffnungsfilm, wie Kummer kürzlich zu swissinfo.ch sagte.
Aber nicht nur der Inhalt, also die Story, stimmt bei Verdoscis Werk, sondern auch die Verpackung. Im hervorragend gefilmten Plot brillieren die Schauspieler, allen voran Klaus-Maria Brandauer. Der Schauspieler, aufgrund seiner Leistungen sowohl auf der Bühne wie auch auf der Leinwand vielfach ausgezeichnet, gibt den Beamten Rappold in seiner gesamten menschlichen Zwiespältigkeit, ohne ihn zum Unmenschen werden zu lassen.
Sebastian Koch zeichnet den prominenten PR-Berater Harry Wind als charmanten, aber hinterhältig-machiavellistischen Strippenzieher der Macht.
Politfilme Mangelware
Brandmarkung als Steuerinsel, UBS-Steueraffäre, Angriffe auf das Bankgeheimnis, Libyen-Krise, stärkerer Gegenwind aus Brüssel: Die Schweiz sieht sich in den letzten Jahren zunehmendem Druck ausgesetzt. Kann dies nicht zu einer Renaissance des politischen Schweizer Films führen?
«Es gab vor zwanzig Jahren eine Bewegung kritischer und provokativer Filme. Gegenwärtig erleben wir aber eine etwas lauere Phase», sagt Kummer. Damals habe man Kritik leichter anbringen können, während heute alles viel komplexer geworden sei. «Man muss den richtigen Blickwinkel finden», so Direktor Ivo Kummer.
Die diesjährigen Solothurner Filmtage dauern vom 20. bis 27. Januar.
Mit insgesamt 209 Filmen wurde das Programm etwas gestrafft (2010: 254 Filme).
Solothurn ist die wichtigste jährliche Film-Werkschau. Sie zeigt eine repräsentative Auswahl der aktuellen Tendenzen des Schweizer Kinoschaffens.
Das Forum «Rencontre» ist dieses Jahr der Produzentin Ruth Waldsburger gewidmet, «Invitation» umfasst kuratierte Filmreihen zu speziellen Themen.
Zehn Spiel- und Dokumentarfilme sind für den Prix de Soleure nominiert. Dieser ist mit 60’000 Franken dotiert.
Im Rennen um den Publikumspreis (20’000 Franken) befinden sich 13 Filme.
(Übertragung aus dem Französischen: Renat Künzi)
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