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Frédéric Maire bändigt die Leoparden von Locarno

Frédéric Maire, der neue Direktor des Filmfestivals von Locarno. pardo.ch

Das Internationale Filmfestival von Locarno steht dieses Jahr erstmals unter der künstlerischen Leitung des neuen Direktors Frédéric Maire.

Als Nachfolger von Irene Bignardi hat der Neuenburger sein Amt offiziell im Oktober 2005 angetreten. swissinfo hat Maire kurz vor Beginn des Festivals getroffen.

Die Arbeit Maires begann sofort nach seiner Nominierung am 14. August 2005. Er tauchte unmittelbar ins Festival ein, das er im Übrigen schon bestens kannte. Seit 20 Jahren ist Maire in diversen Funktionen fürs Filmfestival tätig.

In seinem Büro nahe der Piazza Grande von Locarno spürt man bereits die Spannung, die einer grossen Kulturveranstaltung wie dem Filmfestival vorausgeht.

swissinfo: Wie geht es Ihnen so kurz vor dem ersten Festival, das unter ihrer Leitung steht?

Frédéric Maire: Ich muss ganz ehrlich zugeben, dass ich schon ein wenig Herzklopfen spüre. Obwohl ich das Festival seit vielen Jahren kenne, bin ich noch nie auf das Podium der Piazza Grande gestiegen, um dort zu reden und Filme vor einem Publikum von mehr als 8000 Leuten zu präsentieren.

Da gibt es schon eine gewisse innere Anspannung, etwas Lampenfieber. Wie bei Schauspielern vor ihrem Auftritt. Ich muss aber auch sagen: Es ist eine angenehme Anspannung. Denn ich bereite mich zusammen mit meinem Team auf eine sehr guten Stimmung vor.

Ich habe den Eindruck, dass wir ein Festival mit genau den Inhalten realisieren, wie wir es wollten. Konkret: Das Piazza-Programm wird leichter verdaulich, in anderen Sektionen legen wir tendenziell an Radikalität zu.

swissinfo: Nach Ihrer Nominierung gaben Sie an, das Festival wieder an seine Ursprünge führen zu wollen. Was meinten Sie damit?

F.M.: «Rückkehr zu den Ursprüngen» ist nicht ganz richtig. Es geht eher darum, vorwärts zu kommen und dabei auf den Fundamenten der Vergangenheit aufzubauen. Ein Festival ist wie der Bau eines Hauses. Jedes Jahr wird ein neuer Stein gesetzt.

Ich baue auf einem bereits existierenden Fundament auf. Wir sind ein Festival der Entdeckungen, ein freies Festival, das auch etwas wagen kann. Wir sind ein Festival, welches das Kino in seiner ganzen Bandbreite ausleuchten kann: Vom Hollywood-Klassiker bis zum radikalen, neuzeitlichen Film.

Das ist unsere Grundlage, um das Festival noch weiter nach oben zu führen.

swissinfo: Wie lange wird Locarno das Festival noch beherbergen können? Es gibt Probleme bei der Logistik und bei den Hotelstrukturen. Braucht es nicht einige radikale Eingriffe?

F.M.: Solche Eingriffe sind ziemlich dringend nötig; nicht so sehr bei filmspezifischen Infrastrukturen, sondern vielmehr bei den Hotels, beziehungsweise bei der Gästeunterbringung im Allgemeinen.

Die Hotelsituation in Locarno ist schwierig – es fehlt an Zimmern und Betten. Auch im Angebot bräuchte es eine grössere Vielfalt.

Auf der filmischen Ebene merken wir den Mangel qualitativ guter Vorführsäle. Die bestehenden Infrastrukturen werden immer älter und müssten eigentlich überholt werden.

Gleichzeitig erlaubt die ökonomische Situation dieser Region wenig Spielraum für Investitionen. Ich hoffe jedoch sehr, dass sich in den nächsten Monaten etwas tut.

swissinfo: Locarno gilt als kleineres Festivals unter den grossen. Wie stark ist die Position bei Verhandlungen mit Filmverleihern und Produzenten?

F.M.: Auf Grund meiner bisherigen Erfahrung kann ich sagen, dass die Position Locarnos viel stärker ist als ich dachte. Als Direktor des Festivals bin ich stolz darauf, Filme an Land gezogen zu haben, die auch andere Festivals – wie Venedig – wollten.

In bestimmten Sektionen haben wir sogar festgestellt, dass wir stärker sind als Cannes oder Venedig. Dies betrifft vor allem die so genannten «fragilen Filme». Diese finden in Locarno ihr Publikum, während sie in Venedig wohl untergehen würden.

Locarno bleibt ein Referenzpunkt für junge Regisseure. Häufig sind sie weniger bekannt, aber deshalb nicht schlechter als die Stars der Szene. In Locarno können diese Regisseure auf ein Publikum setzen, das offen, neugierig und unvoreingenommen ist.

swissinfo: Wie beurteilen Sie das gegenwärtige internationale Filmschaffen?

F.M.: Ich bin vor allem von der Quantität gedrehter Filme beeindruckt. Der Videofilm hat den Produktionsprozess eindeutig demokratisiert. Es wird also immer leichter, einen Langspielfilm auch mit wenigen finanziellen Mitteln zu produzieren. Die Quantität erhöht allerdings nicht automatisch die Qualität.

Gleichwohl können wird dank der Videofilme eine zunehmende Zahl von Werken junger Regisseure sehen, die teilweise erstaunliche Dinge machen. Auf der Piazza Grande wird es dieses Jahr eine Reihe qualitativ hervorragender Erstlingswerke zu sehen geben.

swissinfo: Ist denn der Schweizer Film bei guter Gesundheit?

F.M.: Ich würde sagen: Die Gesundheit verbessert sich stetig. Vor allem in der deutschen Schweiz ist der Schweizer Film beliebt und macht Kasse. Auch die Romandie und das Tessin sollten endlich erkennen, dass der Schweizer Film existiert und eine gute Qualität aufweist.

Beim diesjährigen Festival zeigen wir viele Schweizer Filme, und dies in allen Sektionen, einschliesslich der Piazza Grande. Wir haben viele und sehr vielfältige Werke: Vom klassischen Dokumentarfilm über Experimentalstreifen bis zu Familienkomödien.

Der Schweizer Film ist äusserst lebendig. Dies ist keine Fiktion, sondern Realität. Man muss ihn nur entdecken. Und dies tun wir. Ganz in der Tradition der Filmfestivals Locarno.

swissinfo, Françoise Gehring, Locarno
(Übertragung aus dem Italienischen: Gerhard Lob)

Die 59. Ausgabe des Internationalen Filmfestvials Locarno dauert vom 2. – 12. August 2006.
Sie findet erstmals unter Leitung von Frédéric Maire statt.
Maire tritt die Nachfolge von Irene Bignardi an.

Frédéric Maire wird am 27. Oktober 1961 in Neuenburg geboren. Der Vater ist Schweizer, die Mutter Italienerin.

Ab 1979 beteiligt er sich an der Realisierung diverser Lang- und Kurzspielfilme

Von 1988 bis 1992 gibt er Einführungskurse im Umgang mit audiovisuellen Techniken am DAVI (Département audiovisuel de l’Ecole d’Art de Lausanne).

1992 gründet er (zusammen mit Vincent Adatte und Francine Pickel) den Kinderkinoklub Zauberlaterne. Angesprochen werden junge Menschen zwischen 6 und 11 Jahren.

Von 2000 bis 2004 war er Mitglied der Expertenkommission der Stiftung Montecinemaverità in Lugano.

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