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Franz Gertsch: Aufbruch und Rückzug

Monumental: "Silvia I" (1999) Keystone

Zu seinem 75. Geburtstag erhält der international renommierte Berner Künstler Franz Gertsch seine erste umfassende Retrospektive.

Das Franz Gertsch Museum in Burgdorf und das Kunstmuseum Bern zeigen zusammen 71 Werke, vor allem Bilder und Holzschnitte.

Die Kuratoren der Ausstellung, Reinhard Spieler und Samuel Vitali, haben sich in Absprache mit dem Künstler für das naheliegendste Konzept entschieden: die Chronologie. Das Museum in Burgdorf zeigt Arbeiten bis 1976, das Kunstmuseum Bern die wichtigsten Bilder und Holzschnitte der letzten dreissig Jahre.

So kann die Entwicklung in Gertschs Werk gut verfolgt werden. Hingegen entfällt die Möglichkeit, die Parallelen zwischen zeitlich weit auseinander liegenden Gemälden in der direkten Konfrontation zu entdecken.

Künstlerische Einkehr

Das ist insofern schade, als Gertsch sich in seinem Spätwerk intensiv auf seine Anfänge zurückbesinnt. Die romantisch-zeitlose Grundstimmung des Gemäldes «Bach bei Mondschein» (1952) etwa prägt auch die holzgeschnittenen und gemalten Landschaften, Gräser und Porträts der letzten 20 Jahre.

Der am 8. März 1930 in Mörigen am Bielersee geborene Franz Gertsch hat sich 1975 mit seiner Frau Maria in die Abgeschiedenheit der Berner Gemeinde Rüschegg zurückgezogen.

Damit einher ging die künstlerische Einkehr. Gesellschaftliche Elemente, die bis dahin in seine Bilder hineinspielten, verbannte Gertsch immer mehr und zelebrierte dafür ein zeitloses Natur- und Menschenbild.

Hilfsmittel Fotografie

Bis 1985 war Gertsch Maler, dann während zehn Jahren ausschliesslich Holzschneider. Ab Mitte der 90er Jahre griff er auch immer wieder zum Pinsel. In seinen Anfängen orientierte er sich an alten Meistern, an der Romantik, dem Surrealismus, der Popart, bevor er Ende der 60er Jahre die Fotografie entdeckte und Schnappschüsse zu kopieren begann.

Den Anfang dieser Periode markiert das wilde, grellfarbige Gemälde «Huaa…!» (1969), das mit seiner Dynamik eindrücklich die Aufbruch-Stimmung der damaligen Zeit spiegelt.

Kassel 1972: Durchbruch

In den Räumen in Burgdorf hängt eine Reihe weiterer Bilder, die für Gertschs fotorealistisches Image verantwortlich sind: Porträts von Künstlerkollegen wie Markus Raetz oder Urs Lüthi und vor allem das grossformatige Gemälde «Medici» (1971/72), das Gertsch an der Documenta 5 in Kassel den internationalen Durchbruch brachte.

Aufbruch: Für Franz Gertsch war er seit jeher gleichbedeutend mit Ausstieg. Um 1970 beschäftigte den 40-jährigen Maler das Leben in der Wohngemeinschaft des knapp 20-jährigen Luzerner Künstlers Luciano Castelli.

Etliche Arbeiten in Burgdorf zeugen von dieser Affinität, so auch «At Lucianos House» (1973), das drei junge Frauen zeigt, das Auge des Betrachters jedoch vor allem zu einem kleinen, bunten Schmetterling in der Mitte des Bildes zieht.

Der Schmetterling ist nicht Teil des Schnappschusses, er ist reines Kunstprodukt, von Gertsch nachträglich in die Wirklichkeit eingepflanzte Metapher für das Leben in der Wohngemeinschaft: Jung, wandelbar, flatterhaft, frei schwebend.

Makellose Schönheit

Mit Fotorealismus hat dieses Bild somit nur am Rande zu tun. Vielmehr entspricht es Paul Klees Diktum «Die Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern sie macht sichtbar», das an einer Wand im Burgdorfer Museum zu lesen ist.

In Bern wird das Publikum vom gemalten Porträt «Johanna I» (1983/84) empfangen. Deutlich kommt zum Ausdruck, was Gertsch seit den 1980er-Jahren interessiert: die makellose Schönheit, das zeitlose Menschenbild oder aber die reine Natur.

Während der Künstler Ende der 70er-Jahre im Zyklus «Patty Smith» wenigstens noch das Bühnenambiente ins Bild hineinnimmt, spielt die Umwelt bald keine Rolle mehr. Leer ist der Blick in seinem Selbstporträt von 1980, untrügliches Zeichen einer neuen Innerlichkeit.

Unheimliche Perfektion

Zum Ausdruck kommt sie auch in der entrückten Schönheit und Natürlichkeit der «Gräser» und der Landschaften.

Höhepunkt der Berner Ausstellung ist das Ensemble im Hodler-Saal. Erstmals zusammen zeigt Gertsch seine monumentalen Porträts «Silvia I-III». Dazu die vier «Gräser», die, so verschieden sie sind, eine schier unheimliche Perfektion realistischer Malkunst offenbaren.

swissinfo und Karl Wüst (sfd)

Die Retrospektive Franz Gertsch in Bern und Burgdorf dauert bis am 12. März 2006.

Franz Gertsch wurde am 8. März 19390 in Mörigen geboren.

Er gehört zu den bedeutendsten Schweizer Künstlern und hat sich seit der Documenta 1972 in Kassel auch international etabliert.

Seit 2002 ist ihm ein eigenes Museum in Burgdorf gewidmet.

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