Leiko Ikemura: Von Zürich in die Welt
Die Japanerin Leiko Ikemura kam Mitte der 70er-Jahre erstmals wegen eines Ferienjobs in die Schweiz. Dann blieb sie und legte dort die Grundlage einer internationalen Karriere als Künstlerin. Ein Atelierbesuch in Berlin, wo sie seit vielen Jahren lebt.
2019 ist ein höchst erfolgreiches Jahr für Leiko Ikemura: Gleich zwei renommierte Museen in Tokio und Basel würdigen die japanisch-schweizerische Künstlerin mit grossen Einzelausstellungen. Das Kunstmuseum Basel zeigt bis September unter dem Titel «Nach neuen Meeren»Externer Link einen Ausschnitt aus ihrem bereits mehr als vier Jahrzehnte dauernden Schaffen. Sammler auf der ganzen Welt schätzen ihre Werke. Viel mehr kann man als lebende Künstlerin kaum erreichen.
Biographisches
Leiko Ikemura wurde in der japanischen Präfektur Mie geboren und studierte spanische Literatur in Osaka. 1972 ging sie nach Spanien und studierte von 1973-1978 Malerei in Sevilla.
1979 zog sie in die Schweiz und machte sich in der dortigen Kunstszene einen Namen. 1983 erhielt sie ein Stipendium als Stadtzeichnerin in Nürnberg und hatte anschliessend dort ihre erste viel beachtete Einzelausstellung in der Kunsthalle Nürnberg.
Es folgen zahlreiche Einzel- und Gruppenausstellungen, unter anderem im Kunstmuseum Gegenwart Basel. Seit 1986 lebt Ikemura zunächst in Köln und dann Berlin.
Von 1991 bis 2014 war sie Professorin an der Universität der Künste in Berlin, seit 2014 ist sie Professorin an der Joshibi Universität für Kunst und Design. Sie spricht neben Japanisch fliessend Spanisch, Deutsch und Englisch.
Das hat Ikemura sicher nicht geahnt und noch viel weniger geplant, als sie mit 21 Jahren von Japan nach Europa kam. Zu dem Zeitpunkt hatte sie bereits Spanisch studiert und verspürte «den starken Wunsch, aus meinem Leben etwas zu machen», erzählt sie im obersten Stock ihres modernen Atelierhauses in Berlin.
Das sich eher abschottende Japan mit seinen starren und konservativen Rollenbildern erschien ihr dazu nicht der richtige Ort. Also machte sich die junge Frau auf und davon, studierte in Sevilla Malerei und genoss die ungewohnte Leichtigkeit des spanischen Lebens.
Der reine Zufall und ein pragmatischer Grund führten sie wenig später zum ersten Mal in die Schweiz: Sie arbeitete während eines Sommers in einer Fabrik bei Olten: «Mit dem Geld, das ich mit dem Ferienjob verdient habe, konnte ich in Spanien studieren.»
Der beste Platz für ihre Ambitionen
Doch dann fand sie Gefallen an dem Leben in der Schweiz, auch wegen des im Vergleich zu Japan und zu Spanien liberaleren Frauenbildes. Und sie mochte die Effizienz, mit der Eidgenossen ans Werk gehen.
Während der Sommer schloss die Kunststudentin Freundschaften mit Schweizern und machte ihre ersten Schritte als Künstlerin. Irgendwann ahnte sie, dass sie mit ihren Ambitionen dort vermutlich besser aufgehoben wäre als in Spanien. Also packte sie 1979 nach ihrem Studium ihre Koffer und siedelte um.
Erst wohnte sie in Luzern, dann in Zürich, sie heiratete einen Schweizer und wurde Eidgenössin. Den Schweizer Pass besitzt Leiko Ikemura bis heute, auch wenn sie das Land bereits 1983 verliess und seither in Deutschland lebt, erst in Nürnberg, dann in Köln und Berlin.
Die innere Verbundenheit zur Schweiz ist geblieben. Die Künstlerin arbeitet eng mit Schweizer Galerien zusammen und stellt regelmässig dort aus. «Es ist mir nie in den Sinn gekommen, die deutsche Staatsbürgerschaft zu beantragen», sagt sie fast verwundert über die Frage.
Dennoch käme ein Leben in der kleinen überschaubaren Schweiz für sie nicht mehr in Betracht. Berlin bietet ihr die notwendige Diversität und trotz aller seiner Ruppigkeiten und zuweilen auch ästhetischen Unzumutbarkeiten den Freiraum, tun und lassen zu können, was sie mag. Sie sei allergisch gegen Kontrolle, bekennt sie.
Doch auch Berlins kreativer Raum verändert sich: Mittlerweile lebe und arbeite hier eine Künstlergeneration, die sich dem Markt anbiedere, um Erfolg zu haben, die Kunst im Streben auf die Verkäuflichkeit hin erschaffe, kritisiert Ikemura.
Verletzlichkeit und Schwäche als Qualität
«Was andere sagen, hat mich nie interessiert», setzt sie dem entgegen. Schubladen und Kategorien, in die sie als Mensch oder Künstlerin gesteckt werden soll, seien ihr ein Graus. Ihr Fokus richtet sich auf die Übergänge, Mehrdeutigkeiten und Zwischenräume, die jeder Betrachter mit einer eigenen Bedeutung füllt.
Ikemuras Zeichnungen, Bilder und Skulpturen zeigen auflösende Landschaften und Frauenfiguren, die sich eindeutigen Interpretationen entziehen: hybride Gestalten, die in Landschaften schweben oder mit ihnen zu verschmelzen scheinen, liegende hohle Mädchenkörper ohne Gesicht, maskenförmige Köpfe. «Verletzlichkeit und Schwäche interessieren mich als Qualität», sagt sie.
Ihre Werke entstehen in ihrem Atelierhaus in einer kleinen Strasse am Übergang zwischen den Berliner Bezirken Kreuzberg und Mitte. Entworfen hat es ihr Schweizer Partner, der Architekt Philipp von Matt. Das schmale vierstöckige Gebäude vereint moderne eidgenössische Baukunst mit japanischer Ästhetik: Klare Formen, hohe Wände aus Beton mit bodentiefen Fenster strahlen in Kombination mit Holz und viel Tageslicht eine wohltuende Ruhe aus.
Unten im Erdgeschoss in ihrem 250 Quadratmeter grossen hellen Atelier arbeitet Ikemura vorwiegend am Nachmittag bis in die Nacht hinein. Drei grosszügige Räume mit hoch hinaufreichenden Decken umschliessen den japanisch anmutenden Innenhof. In dem grössten Zimmer reihen sich Dutzende von Pinseln auf mehreren Tischen auf, Bilder hängen und lehnen an den Wänden, manche davon noch in Arbeit.
Im letzten Jahr hat Leiko Ikemura viel Zeit und Kraft in die grossen Ausstellungen in Tokio und Basel investiert. Doch zugleich beflügelt sie die Anerkennung, bekräftigt die Künstlerin. Ihr Blick richtet sich nach vorne. Unter anderem möchte sie die Fühler gezielt in den anglo-amerikanischen Raum ausstrecken, wo sie noch nicht so bekannt ist. «Ich habe noch einiges vor», sagt sie.
Leiko Ikemura im Kunstmuseum Basel
Der ehemalige Leiter des Kupferstichkabinetts des Kunstmuseums Basel, Dieter Koepplin, begann bereits 1982, Leiko Ikemuras Zeichnungen zu sammeln. 1987 fand dort die erste grosse Ausstellung der Künstlerin statt.
Heute besitzt das Museum mit 144 Blättern die weltweit grösste Sammlung ihrer Zeichnungen und dank Schenkungen von Dieter Koepplin sowie Catherine und Bernard Soguel-Dreyfus auch Gemälde und Skulpturen.
Die in Basel gezeigte Ausstellung «Nach neuen Meeren» ist ein Ausschnitt aus der umfangreicheren Werkausstellung im National Art Center Tokyo, die dort vom 18.1. bis 1.4.2019 zu sehen war. Die Basler Ausstellung läuft noch bis Anfang September.
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