Fünf Kilo Schweizer Filmgeschichte
Zusammen mit dem Internationalen Filmfestival Locarno gibt das Schweizer Filmarchiv ein umfangreiches Werk zur Schweizer Filmgeschichte von 1966 bis ins Jahr 2000 heraus.
Die Filmchronik umfasst 1200 Schweizer Spielfilme: Darunter befinden sich sowohl Klassiker als auch Erotikfilme sowie unvollendete und unbekannte Werke.
Das Buch wiegt fünf Kilo, zählt 1800 Seiten und sagt viel über das Schweizer Filmschaffen.
Das Werk mit dem Titel «Histoire du cinéma suisse 1966-2000» enthält neben Filmen von Regisseuren wie Tanner oder Goretta auch rund 60 erotische und pornographische Produktionen.
«Das Buch ist natürlich nicht repräsentativ für das Schweizer Filmschaffen in dieser Zeitperiode – es ist auch ein anekdotisches Werk», sagt Hervé Dumont, Direktor des Schweizer Filmarchivs und Co-Autor des Buches, das am Freitag am Internationalern Festival von Locarno vorgestellt wird.
Die Produktion erotischer Filme sei in den 70er-Jahren bis Anfang 80er-Jahre jedoch ziemlich wichtig gewesen.
«Die erotischen Kinofilme, die zu dieser Zeit noch ziemlich unprofessionell gedreht wurden, kamen sowohl in der Schweiz als auch im Ausland sehr gut an», sagt Dumont. Die Auswertungen dieser Filme seien alles andere als unbedeutend gewesen.
Ausgeklammerte Erotik
Die Produktion erotischer und pornographischer Filme wird im Schweizer Filmschaffen ausgeklammert. Weder das Bundesamt für Kultur (BAK) noch die Filmpromotions-Agentur Swiss Films haben dieses Filmgenre katalogisiert.
«Ich habe diese Filme beibehalten, denn ich wollte möglichst umfassend sein», sagt Dumont. «Doch macht dieser Aspekt nur einen kleinen Teil des Gesamtwerks aus.» Zum Beispiel «Histoire d’Q», der 1976 mit folgendem Slogan lanciert wurde: «Der grösste Erotikfilm, der je in Genf gedreht wurde.»
Hayek als Cineast
Bis ins Detail kommentiert das Buch die Produktion von ausgewiesenen Filmemachern des «neuen Schweizer Films» wie Alain Tanner, Daniel Schmid oder Michel Soutter, um nur einige zu nennen. Der Leser findet im Buch vor allem Zusammenfassungen und die Geschichte des Werks.
Dabei kommen auch manche Raritäten zum Vorschein. So hatte der heutige Chef der Swatch-Group, Nicolas Hayek, bei zwei Spielfilmen Regie geführt: «Le pays der Guillaume Tell» 1985 und «Family Express» 1991.
Dabei erfährt der Leser, das Patrice Leconte und Bruno Nuytten 1972 Monteur und Chefoperateur des Films «Chronique d’une ville moyenne suisse: Bienne» waren. Leconte ist später Regisseur von «Bronzés 3» oder «Monsieur Hire», Nuytten spielt mit bei «Camille Claudel» mit Isabelle Adjani.
Die vergessene Palme
Unter den 1220 im Buch aufgeführten Spielfilmen wird auch «Ferme à vendre» (Bauernhof zu verkaufen, 1982) des Neuenburgers Frédéric Maire erwähnt. Dieser ist heute künstlerischer Direktor des Filmfestivals Locarno.
Das Buch von Dumont erinnert auch daran, dass der Film «Yol» der beiden Türken Yilmaz Güney und Serif Gören, der 1982 die Goldene Palme von Cannes erhielt, eigentlich eine Schweizer Produktion ist.
Ab und zu wird auch auf Schicksalsschläge von Regisseuren hingewiesen, zum Beispiel auf den Fehlschlag des Films «Supersaxo» des Waadtländers Etienne Delessert.
Dieses unvollendete Werk von 1982 hätte der erste schweizerische Zeichentrick-Spielfilm werden sollen. «Es ist ein Skandal, dass niemand für das Risiko aufkommen wollte, um das Werk zu Ende zu führen», erregt sich Hervé Dumont.
Ständig sich wiederholende Themen
Das Schweizer Filmschaffen am Ende des 20. Jahrhunderts zeichne sich aus durch seine Reichhaltigkeit, seine ungleich verteilte Qualität und seine sich – bis zum Überdruss – wiederholende Thematik, schreibt Dumont.
Die wichtigste Sorge der jungen Cineasten sei es gewesen, das Postkarten-Image der Schweiz, von Medien und Werbung sorgsam gehegt, zu korrigieren.
«Sie wollten die Manipulierungen und Ungerechtigkeiten aufs Tapet bringen», so Dumont. «Das haben sie mit Schwung gemacht, und dabei oft erst beim Drehen das Filmen gelernt.»
Viele wandten sich den von der Gesellschaft Ausgestossenen zu oder verliessen die Schweiz, um Horizont erweiternde Dokumentarfilme in Südamerika, Afrika oder Asien zu drehen.
Andere haben es mit «Road Movies» versucht, auf der Suche nach dem Ich, so Dumont. Er schreibt, dass viele der Filme heute «vergessen sind, ob zu Recht oder Unrecht». Sie wieder zu entdecken sei einer der Zwecke seiner Publikation.
swissinfo und Philippe Triverio, SDA
(Übertragung aus dem Französischen: Corinne Buchser und Alexander P. Künzle)
Insgesamt haben 25 Personen während fast elf Jahren – unter der Leitung von Hervé Dumont, Direktor des Schweizer Filmarchivs, und Maria Tordajada, Professor an der Universität Lausanne – an der Filmchronik «Histoire du cinéma suisse 1966-2000» gearbeitet.
Die Produktionskosten im Umfang von rund 1,3 Mio. Franken wurden hauptsächlich vom Bund und privaten Stiftungen finanziert.
Das Werk mit einer Auflage von 3000 Exemplaren erscheint am 8. August in zwei Bänden auf Französisch. Mit der deutschen Übersetzung wird voraussichtlich in den nächsten Monaten begonnen.
Die Filmchronik «Histoire du cinéma suisse 1966-2000» schliesst an das erste von Hervé Dumont publizierte Werk zum Schweizer Filmschaffen von 1895 bis 1965 an.
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