Schweizer Clubs hängen am Gründungsmythos der Eidgenossenschaft
Bei einem Treffen im Musée des Suisses dans le monde haben sich Auslandschweizer-Vereine mit den Traditionen des Landes und deren Bedeutung für die Schweizer Diaspora befasst. Eine von Historikern begleitete Debatte illustrierte dabei Missverständnisse zwischen Geschichte und Folklore der Eidgenossenschaft.
«Der historische Teil dieses Films ist ein Gewebe voller Irrtümer. Wenn ich das sehe, frage ich mich, wozu ich überhaupt diene. Die Schweizer Geschichte wird nur aus der Perspektive der Berge betrachtet, alles andere wird vergessen.» Der Historiker François Walter, Autor einer neueren GeschichteExterner Link der Schweiz, versteckt seine Enttäuschung nicht, nachdem er einen Auszug des Films «La Suisse au cœur des Alpes» (Die Schweiz im Herzen der Alpen) von Pierre Dubois gesehen hat. Der Film des Abenteurers und Mitglied der Geografischen Gesellschaft Genf stammt von 2013.
Die Szene spielte sich in der idyllischen Umgebung des Château de Penthes bei Genf ab, am Horizont der Mont Blanc. Wir befinden uns am zweiten internationalen TreffenExterner Link der Schweizer Auslandvereine aus aller Welt, das vom Musée des Suisses dans le monde (dem Museum der 5. Schweiz) im Vorfeld des jährlichen Auslandschweizer-KongressesExterner Link organisiert wurde. Dieser findet am Wochenende in Bern statt.
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1. August im Lauf der Zeit
Etwa 70 Vertreter und Vertreterinnen von Auslandschweizer-Clubs aus 26 Ländern nehmen an diesem 2. August an einer Debatte über Schweizer TraditionenExterner Link teil. Mit dabei sind François Walter und Isabelle Raboud-Schüler, die Direktorin des Musée gruérienExterner Link (Museum des Greyerzerlands) und Ethnologin. Auch sie ist mit den in dem Film transportierten Darstellungen nicht glücklich: «Die Städte, und damit Kunst und Kultur, fehlen fast ganz.»
Dieser Ausdruck des Bedauerns stösst beim Publikum auf Widerspruch. Ein Schweizer, der in Lateinamerika lebt, unterstreicht, es sei gerade wegen dieser Mythen und Traditionen, dass ausgewanderte Schweizer und Schweizerinnen zusammenkämen und sich untereinander austauschten, vor allem am Nationalfeiertag, dem 1. August.
Lob der Schweizer Werte
Ein Schweizer, der in Dubai lebt, kritisiert die «globalisierte und pasteurisierte» Welt, und rühmt dafür Schweizer Traditionen, die international bekannt seien: «Natürlich kann man in der Schweiz Gay-Pride-Paraden organisieren, aber Los Angeles macht das ohne Zweifel besser.»
Danach greift er die Feiern rund um die Eröffnung des neuen Gotthard-Tunnels im Juni an, in dem er auf das Tanzspektakel verweist, das speziell dafür geschaffen wurde: «Ein saudi-arabischer Freund rief mich an, und erklärte, er könne schlicht nicht verstehen, dass ein Ereignis, das weltweit auf Echo stiess, durch ein Schauspiel illustriert worden sei, das derart wenig repräsentativ für die Schweiz sei. Der Film, von dem wir eben einen Ausschnitt gesehen haben, ist vielleicht bloss Kino. Aber gutes Kino.» Aus dem Publikum kommt Applaus.
هل هذا أغرب احتفال لأطول وأعمق نفق في العالم؟https://t.co/BpaFwEyCIfExterner Link pic.twitter.com/3QtkT7DlqsExterner Link
— CNN بالعربية (@cnnarabic) June 19, 2016Externer Link
Nach der Debatte erklärt François Walter gegenüber swissinfo.ch, die Gotthard-Zeremonien reihten sich bestens ein in die helvetische Mythologie eines rustikalen, einfallsreichen Volkes, einer Wächterin der Alpen im Herzen Europas.
Eine Mythologie, die der Historiker im ersten Teil der Debatte entschlüsselt hatte. Er sprach vor allem über das Älplerfest von Unspunnen im Kanton Bern, das 1805 zum ersten Mal organisiert worden war. «Die Burger Berns hatten in diesen schwierigen Zeit Stadt und Land zusammenbringen wollen für ein Fest alpiner Traditionen (für die sich Rousseau und die englischen Romantiker begeisterten, N.d.R.).
Gesucht wurden Armbrustschützen und Alphornbläser. Doch gab es damals fast keine mehr. Die zweite Ausgabe des Unspunnenfests 1808 fiel umfassender aus, unter anderem mit Schwingduellen (eine Art alpines Ringen, N.d.R.), Fahnenschwingen und Steinstossen mit dem 83,5 Kilo schweren Unspunnensteins. Mit dem Fest von 1808 wurden 500 Jahre Eidgenossenschaft gefeiert, damals hatte 1308 als deren Gründungsdatum gegolten.»
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Alltag der Schweizer Aktivdienstler
Aus diesen gut besuchten Zeremonien und Festen, wie der 500-Jahr-Feier der Schlacht von SempachExterner Link 1886, entstand nach und nach die Idee für eine Nationalfeier. Um diese Entwicklung zu beschleunigen, brauchte es jedoch den Druck – die Gefahr – der ersten Arbeiterveranstaltungen in der Schweiz vom 1. Mai 1890.
«Mit den Umzügen und den sozialen Forderungen beriefen sich die sozialistischen Organisatoren auch auf die ersten Schweizer Kantone, die als sozialdemokratische Oasen inmitten von Tyrannei und Feudalismus betrachtet wurden», sagt der Historiker François Walter weiter.
Die Freisinnigen (die vorherrschende politische Kraft im bürgerlichen Spektrum der damaligen Zeit) reagierten im Jahr darauf, am 1. August 1891, indem sie 600 Jahre Eidgenossenschaft feierten – basierend auf einem Dokument aus dem Mittelalter, das damals als Gründungsakte der Schweiz betrachtet wurde. Eine Interpretation, die von Historikern heute zu einem grossen Teil in Frage gestellt wird.
Fünfte Schweiz machte Druck
«In der Folge begannen Schweizer Vereine im Ausland damit, Druck auf die Eidgenossenschaft auszuüben, dieses Fest zu einer ständigen Einrichtung zu machen», sagt Walter, bevor er die Herausforderungen dieser Feier in Erinnerung ruft:
«Die Wahl des Jahres 1291 erlaubte es zu erzählen, wie die Schweizer Kantone sich nach und nach zu den drei Urkantonen im Herzen der Alpen gesellten. Als ob das Schicksal der Schweiz prädestiniert gewesen wäre, aufgrund einer religiösen Vision. Denn was damals das Schweizer Bewusstsein prägte, war, sich als ein auserwähltes Volk Gottes zu sehen, wie in den Vereinigten Staaten.»
«Da sie jedoch nicht besonders religiös waren, säkularisierten die Freisinnigen in der Folge diesen Mythos, indem sie vom ‹Sonderfall› Schweiz sprachen. Das Bewusstsein, sich als ein besonderes Volk mit einzigartigen Traditionen zu sehen, prägt die Schweiz heute noch teilweise. Aber praktisch alle Länder sagen in etwa das Gleiche von sich. Sie wollen alle etwas Besonderes sein.»
Der Schweizer Friedhof in Kairo geht auf 1923 zurück. Noch heute dürfte er für einige der rund 1200 Schweizerinnen und Schweizer in Ägypten, davon 800 in Kairo, zur letzten Ruhestätte werden.
Doch laut Anna-Maria Sulpizio und Anbreen Slama, Vertreter des Schweizer Clubs in KairoExterner Link, ist der Schweizer Friedhof von Zerfall bedroht. Um einen solchen zu verhindern, braucht es Unterhaltsarbeiten und Renovationen in Höhe von rund 30’000 Franken. Anfragen zur Unterstützung an das Schweizer Aussenministerium haben bisher keine Wirkung gezeigt.
Dies, obschon dieser Ort der Erinnerung für Schweizerinnen und Schweizer in Ägypten auch ein Zeugnis der GeschichteExterner Link dieser Gemeinschaft ist, die ihre Blütezeit in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts hatte.
«Der deutsche Friedhof, der gleich nebenan liegt, kann dank der Unterstützung Berlins bestens unterhalten werden», sagt Anna-Maria Sulpizio.
F. Burnand/swissinfo.ch
Isabelle Raboud-Schüle ist daran gelegen, aufzuzeigen, wie sehr die Schweizer Traditionen, die als gewissenhafte Übertragungen der Vergangenheit verstanden werden wollen, in der Tat eine periodisch geprägte Fabrikation von Ritualen seien. Diese fussten auf Elementen aus der Vergangenheit, die einem jeweilig aktuellen Trend entsprechend neu zusammengesetzt würden (Kostüme, Chorale, Chalets usw.) – und deren Sinn mehr die Gesellschaft eines bestimmten Moments erhelle, als deren Geschichte. «Die Konstruktion von nationalen Narrativen fand in ganz Europa statt, das erschüttert worden war vom Völkerfrühling von 1848 und dem Aufstreben europäischer Nationalstaaten», sagt die Ethnologin.
Dennoch dürfe man das Kind nicht mit dem Bade ausschütten, sagt François Walter: «Mythen sind unabdingbar. Eine Nation, eine Gemeinschaft erzeugt Mythen und Traditionen, um zu existieren und zu überleben. Diese Erzählung legitimiert Aktionen und ermöglicht es, Ereignissen einen Sinn zu geben. Das gilt für die Schweiz genau so wie für alle Gesellschaften weltweit.»
Nach der Diskussion erklärt der Schweizer aus Dubai, nun schlauer zu sein als vorher. «In der Schweiz wagen wir es, unsere Geschichte zu hinterfragen.» Eine weitere idyllische Sicht der Dinge? Auf jeden Fall hatte der kritische Blick gewisser Historiker auf die Ursprünge der Schweiz in den 1980er- und 1990er-Jahren einen Sturm der Entrüstung und Drohungen ausgelöst.
Anselm Zurfluh, der Direktor des Instituts und Museums der Fünften Schweiz und Organisator des Treffens der Auslandschweizer-Vereine, schloss die Debatte mit einem versöhnlichen Votum: «Man darf Traditionen und klischeehafte Bilder nicht miteinander verwechseln.»
Man könnte hinzufügen, wie wichtig es ist, zwischen Geschichte und Folklore zu unterscheiden, zwei Erzählsträngen mit unterschiedlichen Funktionen; sie können in Harmonie nebeneinander existieren, wenn wissenschaftlich fundierte Geschichte die nationalen Leidenschaften abfedern kann.
Kontaktieren Sie den Autor: @fredburnandExterner Link
(Übertragung aus dem Französischen: Rita Emch)
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