«Für Architektur gibt’s hier grosses Potential»
Der Wirtschaftsboom in Indien macht auch vor der Baubranche nicht Halt. Der Schweizer Architekt Georg Leuzinger setzt in Bangalore auf alternative Techniken im Industriebau.
Vor zwei Jahrzehnten als Austauschstudent zum ersten Mal nach Indien gekommen, führt er heute ein eigenes Architekturbüro in der südindischen Stadt.
Ruhig rollt der kleine, blaue Reva durch den dichten Strassenverkehr der Sechs-Millionen-Stadt, überholt die laut tuckernden grün-gelben Rikschas und hupenden Autos und hält vor dem Bürohaus, in dem Georg Leuzinger mit seinem Team energieeffiziente Methoden für den Industriebau entwickelt.
Den Reva-Elektrowagen benutzt Leuzinger fürs Büro. Das in Bangalore entwickelte Auto verkaufe sich im Ausland besser als in Indien, sagt der 45-jährige Architekt: «In London erhält das umweltfreundliche Auto Steuerbegünstigungen, während in Indien hohe Importsteuern für Einzelteile erhoben werden.»
Daher koste das Auto hier fast doppelt soviel wie ein vergleichbarer konventioneller Kleinwagen und bleibe eine Ausnahme im Strassenbild.
Der einstigen «Garden City» geht die Luft aus
«Umweltverschmutzung und Energieverschwendung werden in Indien zu wenig ernst genommen, obwohl sie grosse Probleme verursachen», beklagt Leuzinger. Er lebt seit 15 Jahren in Bangalore, das einst als «Garden City» galt. Jetzt erstickt die Stadt schier an ihren eigenen Abgasen.
«Neben dem Wachstum ist fehlende oder ineffiziente Stadtplanung der Hauptgrund für die Misere», meint Leuzinger. Ausserdem interessierten sich die Leute im Süden Indiens eher für Kunst, Musik und Philosophie als «für die wirklich praktischen Dinge, also etwa, wie man eine Stadtinfrastruktur betreibt und weiterplant».
Gebäude kühl halten
In Bangalore arbeitet der Architekt im Fabrikbau, an Renovationen, Umstrukturierungen oder Ergänzungen. «Hier in Indien geht es vor allem darum, die Gebäude kühl zu halten, sie vor sommerlicher Überhitzung zu bewahren.»
Obwohl die traditionelle indische Baugeschichte solche Techniken kenne, werde in den letzten 50 Jahren stereotyp nach westlichem Muster gebaut, mit grossen Glasfassaden. Im tropischen Klima Indiens sei dies völlig falsch, weil sich auf diese Weise das Gebäude unverhältnismässig aufheize.
«Auch Fabrikarbeiter arbeiten bei 35 Grad besser als bei 45. Ein gutes Raumklima mit mechanischen Mitteln und ohne energieintensive Klimaanlagen zu schaffen, ist daher auch für die Industrie von Nutzen», ist Leuzinger überzeugt.
Die Zahl der Aufträge für das Büro des Schweizer Architekten hat in den letzten Jahren zugenommen. «Das Potential für innovative, kostengünstige Lösungen mit einfachen Mitteln ist gross», sagt er.
Schwieriger Alltag
Als Georg Leuzinger vor rund 20 Jahren zum ersten Mal nach Indien kam, war er fasziniert von dem riesigen Land mit seiner vielfältigen Kultur. An das andere Verständnis von Effizienz und Service musste er sich allerdings gewöhnen.
«Ich habe gelernt, mich zu arrangieren», sagt er. «Sicher bin ich hier weniger effizient, als ich es in der Schweiz wäre, denn der Alltag in Indien ist schwieriger.» Hin und wieder falle der Strom aus, oder es fliesse kein Wasser, die Arbeitswege seien weit und wegen Verkehrsstaus sehr zeitintensiv. «Man muss hier nachsichtiger sein.»
So fehle in indischen Betrieben fast ständig rund 20 Prozent der Belegschaft, weil jemand in der Familie krank, im Spital oder gestorben sei. Die Verbindung mit der Verwandtschaft sei viel enger als in der Schweiz.
Familienleben
In Bangalore lernte Georg Leuzinger seine spätere Frau kennen. Die Ehe mit einer Inderin hat ihn auch auf privater Ebene an die vorerst fremde Kultur und Mentalität herangeführt. «Ich bin ganz selbstverständlich in die indische Familie hineingewachsen und akzeptiert worden.»
Dies bedeutete auch ein Zusammenleben mit der Familie seiner Frau. Als Architekt entwarf er das Haus für die Familie: «Ich lebte mit meiner Frau und den Kindern im oberen Stock, meine Schwiegereltern im unteren. Wir hatten einen gemeinsamen Garten.»
Seine Töchter waren noch klein, als seine Frau plötzlich verstarb. «Das war ein kritischer Punkt in meinem Leben und ich fragte mich ernsthaft, was ich jetzt noch in Indien sollte», erzählt Georg Leuzinger. Nach drei Monaten in der Schweiz sei er zurückgekehrt, weil er erkannt habe: «Mein Boden ist jetzt in Indien.»
swissinfo, Susanne Schanda, Bangalore
Einst bekannt als «Garden City» hat sich Bangalore in den vergangenen 20 Jahren zu einer der führenden Wirtschaftsmetropolen Indiens entwickelt. Wegen der starken Konzentration von Hochtechnologiefirmen gilt die Stadt heute als «Silicon Valley» Indiens.
Die Hauptstadt des südindischen Gliedstaates Karnataka zählt gut 6 Mio. Einwohner. Sie ist nach Bombay (13 Mio.) und Delhi (11 Mio.) die drittgrösste Stadt Indiens.
Auf der Dekkan-Hochebene (920 Meter ü. M.) gelegen, ist das Klima ausgeglichen, mit verhältnismässig kühlen Sommern und milden Wintern.
2008 markiert den 60. Jahrestag des indisch-schweizerischen Freundschaftsvertrags. Die Schweiz war 1948 das erste Land, das mit dem gerade unabhängig gewordenen Land ein solches Abkommen abschloss.
Zahlreiche grosse Schweizer Firmen sind in Indien präsent, darunter Holcim, Novartis, ABB, Nestlé, Sulzer, Rieter.
Die Schweizer Exporte nach Indien haben 2006 um 36% auf 1,9 Mrd. Franken zugenommen. Importe von Indien haben um 11,3% auf 736 Mio. Franken zugenommen.
Ende 2006 lebten 707 Schweizer in Indien und 6984 Inder in der Schweiz.
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