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Die aufmüpfige Meisterin der klassischen Improvisation

Gabriela Montero bei einer Probe zum Neujahrskonzert im KKL Luzern. Rodrigo Carrizo Couto, swissinfo.ch

Sie ist eine Entdeckung der Klavierdiva Martha Argerich: die venezolanische Pianistin Gabriela Montero. Sie hat keine Angst vor dem Publikum, ja, sie erfindet klassische Musik neu - mit Hilfe des Publikums. swissinfo.ch hat die aussergewöhnliche Frau anlässlich eines Auftritts in Luzern getroffen.

Gabriela Montero ist eine für ihre Improvisationen klassischer Musik weltberühmte Künstlerin. Diese Begabung verwandelt ihre Auftritte in eine festliche und ungewöhnliche Erfahrung in der oft einengenden Welt klassischer Musik.

Die Szene löste im imposanten Konzertsaal allgemeine Heiterkeit aus: Ein rund 12-jähriges Kind stand auf und sang (mit mehr gutem Willen als Begabung) eine Arie Mozarts. Ein Lachen unterdrückend, fragte die Pianistin von der Bühne aus: «Versuchst du, eine Arie der Zauberflöte zu singen?»

Darauf wiederholte sie die bekannte Melodie auf dem Klavier, um dann zu einer Improvisation überzugehen. Über das hypnotisierte Publikum erging ein Sturm von Tonleitern und virtuosen Arpeggien. Gabriela Montero vollführte eben eine ihrer längst berühmten Improvisationen mit aus dem Publikum stammenden Ideen.

Wie entstehen diese Improvisationen? Ein paar Tage vor dem Auftritt empfängt uns die Venezolanerin in ihrer Garderobe, damit swissinfo.ch bei der Entstehung eines dieser einmaligen und nicht wiederholbaren Stücke dabei sein kann. Sie erläutert, dass die Kunst der klassischen Improvisation zu Zeiten Mozarts, Bachs oder Beethovens das tägliche Brot war.

Die Grössen waren alle legendäre Improvisatoren einer Tradition, die danach aber verloren ging. Die Pianistin setzt zu zwei Improvisationen zu einer allen Schweizern bestens bekannten Melodie an.

Im folgenden Video improvisiert Gabriela Monteros exklusiv für swissinfo.ch zur schweizerischen Nationalhymne (nur Musik)

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Kann sie den schöpferischen Prozess rational erklären? «Nein, das kommt aus dem Bauch», erklärt Gabriela Montero. «Weder vorher noch nachher gibt es etwas. Danach vergesse ich die Improvisationen völlig. Für mich ist dieser Prozess auch ein Geheimnis. Ich bin gleichzeitig Instrument und Zeugin, wie wenn das Ganze ausserhalb von mir stattfinden würde.»

Eigene Hirnregion aktiviert

Das aussergewöhnliche Talent Monteros ist Thema eines Dokumentarfilms, der ihre Zusammenarbeit mit Neurologen zeigt. «Es ist sehr interessant, denn der Scanner meines Gehirns zeigt, dass ich beim Improvisieren Teile meines Gehirns benütze, die bei der Interpretation des klassischen Repertoires inaktiv sind.»

Improvisieren ist demnach ein «höherer» Schaffensakt als die Interpretation eines Stückes von Beethoven oder Schumann? «Sicher ist es nicht dasselbe, in Realzeit ein Werk zu interpretieren oder zu schaffen. Zumindest aus der Sicht des Neurologen ist es etwas anderes. Ein Werk des grossen klassischen Repertoires ist wie eine von jemandem gezeichnete Landkarte, die mir nur geringen persönlichen Freiraum lässt.»

Die Argerich als Patin

Gabriela Montero wurde von der lebenden Klavierlegende Martha Argerich «entdeckt». Die Argentinierin war fasziniert, als sie sie über Szenen ihres eigenen Lebens improvisieren hörte. Sie verhalf Montero zu den Kontakten für ihre «zweite Karriere» nach einer Periode beruflicher Enttäuschung.

Mit einem Augenzwinkern meint sie, die Schweiz sei die Wiege ihrer zweiten Karriere. Seit der Begegnung mit Argerich tritt Montero regelmässig an deren Festival in Lugano auf: «Seit zwölf Jahren trete ich am ‹Progetto Marta Argerich› und am Luzerner Musikfestival auf. Auch zum Zürcher Kammerorchester pflege ich eine ausgezeichnete berufliche Beziehung», meint sie.

Sie sieht die «Schweiz als ein Land mit grosser kultureller Tradition», dessen Publikum «über ein tiefes Grundverständnis verfügt. Ich glaube nicht, dass die Schweizer kalt sind, sie sind eher zurückhaltend, doch sie sind ein Publikum, das Musik tief verinnerlicht hat.»

Hier die zweite Improvisation von Gabriela Montero über zur Schweizerischen Nationalhymne
Copyright: Rodrigo Carrizo Couto, exklusiv für swissinfo.ch

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Die Pianistin hat ihren Aufenthalt in Luzern zur letzten Überarbeitung ihres ersten Konzerts für Klavier sowie für die Bewerbung ihrer neuen CD mit Eigenkompositionen benützt. Ersteres wird im März in Leipzig uraufgeführt. Eben ist sie mit ihrer Familie von den USA nach Europa umgezogen. «Mein Ehemann ist Ire und ich Venezolanerin. Mit unserer Idiosynkrasie fühlen wir uns in einer Stadt wie Barcelona wohler», gesteht sie.

Klassische Musik scheint es schwer zu haben, junge Leute zu begeistern. In der Tat war das Durchschnittsalter des Publikums am Neujahrskonzert in Luzern um die 60. Montero glaubt nicht, dass dies eine Sache der Eintrittspreise ist. «Es ist eine Lüge, dass die Leute keine klassischen Konzerte besuchen, weil sie teuer sind. Vor kurzem bezahlte meine Tochter 350 Dollar für ein Konzert von Taylor Swift … und niemand regte sich deswegen auf.»

Ihres Erachtens liegt das Problem anderswo: «Früher dachten die Künstler nicht ständig an ihre Karriere, Marketing und den Verkauf von Tickets. Es war die Notwendigkeit des Schaffens, die sie antrieb. Die grossen Komponisten der Vergangenheit gingen von denselben Emotionen aus, die wir heute fühlen, wenn sie damals an ihrer Musik arbeiteten. Wenn wir es zustande bringen, dies wiederum dem Publikum zu vermitteln, dann kann vielleicht die klassische Musik in diesen schwierigen Zeiten überleben.»

Venezuela und «Das System»

Warum fasziniert die vor mehr als 40 Jahren vom venezolanischen Komponisten José Antonio Abreu geschaffene Musikpädagogie mit ihrem Vorzeigeorchester Simón Bolívar und dem Dirigenten Gustavo Dudamel die ganze Welt? «Weil dahinter eine schöne Geschichte und bestes Marketing stehen», antwortet Gabriela Montero.

Montero ist als vehemente Gegnerin des 1998 vom verstorbenen Präsidenten Hugo Chávez eingeführten Regierungssystems bekannt.

«Es sind Kinder eines Entwicklungslandes. Doch aufgepasst, man verlangt von ihnen mehr als von Kindern der Ersten Welt. Die Musikproben sind erschöpfend und können mehr als 10 Stunden dauern. Welcher Raum bleibt bei solchen Arbeitsbedingungen für die eigene Kreativität? Man muss jedoch betonen, dass niemand die Abschaffung Des Systems will. Doch Änderungen sind nötig.»

Was würde sie bewahren, was ändern? «Das Gute am System ist, dass es Kindern und Jugendlichen aller sozialen Klassen die Musik näher gebracht hat. Doch ich würde ihnen die Arbeits- und Lohnbedingungen geben, die sie wirklich verdienen und Missbräuche und Korruption abschaffen. Negativ ist auch, dass Das System jede andere kulturelle Ausdrucksform in Venezuela erstickt. Alle Geldmittel fliessen in dieses Projekt», sagt sie.

«Mit einer Inflation von über 200% ist die Lage katastrophal. Uns fehlen so grundlegende Dinge wie WC-Papier, Medikamente und Tampons. Die Supermärkte sind leer. Es ist ein Land, das nichts produziert und wirtschaftlich und moralisch bankrott ist. Die Orchestermusiker des Theaters Teresa Carreño haben einen Monatslohn von sechs Dollar zum schwarzen Wechselkurs.»

Montero fragt: «Wie können sie behaupten, Das System verbessere die Lebensqualität der Bevölkerung, wenn mehr Gewalt herrscht als je zuvor? 2015 gab es 28’000 Morde, d.h. 76 Tote pro Tag. 1999 waren es 4000 gewesen. In Venezuela gibt es viel dringendere Probleme, als Beethoven toll zu interpretieren, beispielsweise nicht umgebracht zu werden, wenn man auf die Strasse geht.»

(Übersetzung aus dem Spanischen: Regula Ochsenbein)

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