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Gegen «Kinder, Küche, Kirche»: Hommage an die Frauen des Surrealismus

Zwei Frauen vor einem Bildschirm
Bady Mincks "La Belle est la Bête / Beauty is the Beast", 2005. As Per Invoice Terms

The Traumatic Surreal, eine Ausstellung im Vereinigten Königreich, wirft anlässlich des hundertjährigen Bestehens des Surrealismus einen frischen Blick auf diese Kunstbewegung. Die Schau konzentriert sich ausschliesslich auf die Nachkriegswerke von Künstlerinnen aus der Schweiz, Deutschland und Österreich und beleuchtet einen feministischen – und übersehenen – Aspekt in der Entwicklung der Bewegung.

Anlässlich des hundertsten Jahrestages der Veröffentlichung von André Bretons Manifest des Surrealismus (1924) haben die wichtigsten Kunstinstitutionen der Welt die Bewegung ins Rampenlicht gerückt. Dazu gehören die Tate Modern in London, das New Yorker Metropolitan Museum mit seiner Ausstellung Surrealism Beyond BordersExterner Link im Jahr 2022 und die beeindruckende Ausstellung SurréalismExterner Link im Centre Pompidou in Paris (bis zum 13. Januar zu sehen).

Jetzt rückt eine mutige kuratorische Entscheidung des eher bescheidenen Henry Moore InstitutsExterner Link in Leeds, Grossbritannien, die Bewegung in ein wirklich neues, erfrischendes Licht.

Die Kuratorinnen Clare O’Dowd und Patricia Allmer verzichten auf die überwiegend männlichen Künstler des Genres wie Max Ernst, Salvador Dali und René Magritte. Sie wählten ausschliesslich Künstlerinnen aus, die in einem spezifisch deutschsprachigen Kontext sowie zu einem späteren Zeitpunkt – von den 1960er-Jahren bis heute – mit Skulpturen arbeiteten.

Diese Wahl will erforschen, wie Künstlerinnen sich dem Surrealismus zuwandten, um das Vermächtnis des Faschismus und des Holocaust zu beleuchten. Damit erweiterten sie zugleich das Erbe des Surrealismus.

Nach Bretons Definition beruht der Surrealismus «auf dem Glauben an die höhere Wirklichkeit» von Assoziationen, Träumen und Gedankenspielen. Die Bewegung bricht Binaritäten auf, um den Geist vom Rationalismus, der Logik und der cartesianischen Philosophie zu befreien – den Gipfeln der westlichen bürgerlichen Ideologie.

Dass der Surrealismus traditionelle Strukturen und Hierarchien wie Ehe, Kinder und Familie ablehnte und danach strebte, die Gesellschaft neu zu gestalten, sprach insbesondere Künstlerinnen an.

Ein 3D-Gemälde
Ursula (Schultze-Blum), «The Big Pandora Box», 1966. © Rheinisches Bildarchiv Cologne

Überwindung des Traumas

Im Zuge dieser «Wiederentdeckung» bietet The Traumatic Surreal – inspiriert von Allmers gleichnamigem Buch – eine der fesselndsten und fokussiertesten Untersuchungen der späten Periode des Surrealismus.

Im Mittelpunkt der Ausstellung steht Freuds Traumatheorie. Sie will die Wege beleuchten, auf denen Künstlerinnen durch die generationsübergreifenden Nachwirkungen des Nationalsozialismus navigierten, sowie deren Einfluss auf junge Frauen, die mit den Begrenzungen durch «Kinder, Küche, Kirche» aufwuchsen. Für Allmer arbeiten diese Künstlerinnen gegen aufgezwungene Formen der Weiblichkeit und können als «früher feministischer Protest gegen den Faschismus» gelesen werden.

Eine rosa Plastik
Renate Bertlmanns «Carmen – enfant terrible» (2001): Die Spitzenränder eines Chiffon-Ballkleides sind mit zarten Reihen spitzer, dreieckiger Zähne gesäumt, die sich unter einem roten Dildo feierlich entfalten Belvedere Wien, Foto: Johannes Stoll

Die Ausstellung The Traumatic Surreal durchläuft drei Generationen von Frauen, beginnend mit der Schweizer Künstlerin Meret Oppenheim (geb. 1913), die als einzige in der Ausstellung eng mit der ursprünglichen surrealistischen Gruppe um Ernst und Breton zusammengearbeitet hat.

Die Karriere der 1921 geborenen Deutschen Ursula Schultze-Bluhm (auch einfach Ursula genannt), erlebte nach dem Zweiten Weltkrieg ihre Blütezeit. Das Gleiche gilt für die Schweizer Künstlerin Eva Wipf, die 1929 in Brasilien geboren wurde. Die mittlere Generation wird durch die Österreicherinnen Renate Bertlmann und Birgit Jürgenssen vertreten, die beide im Wien der Kriegszeit geboren wurden (1942 bzw. 1943).

Die Multimedia-Künstlerin Bady Minck (Luxemburg) und die Schweizerin Pipilotti Rist, beide 1962 geboren und noch immer aktiv, repräsentieren die dritte Generation.

Die Werke kommunizieren durch zwei miteinander verbundene Themen miteinander. Das eine ist die Verwischung der Grenzen zwischen Tier und Mensch durch die ausgiebige Verwendung von Pelzen über verschiedene Kunstwerke hinweg. Das andere ist das Thema des Eingeschlossenseins, das sich durch alle ästhetischen Ideen der Künstlerinnen zieht – Käfige, Drähte und scharfe, hervorstehende Kanten bis in kleinste Detail.

Die (Wieder)Entdeckung von Eva Wipf

Ein Gemälde einer Frau
Selbstportrait von Eva Wipf, 1954. Museum & Forum Eva Wipf

Eva Wipf ist besonders interessant: Obwohl sie den Grossteil ihres Lebens sehr produktiv war, ist sie eine wenig gefeierte Künstlerin. Ihre Werke reichen von Tafelbildern bis zu avantgardistischen Objektmontagen und sind ein Höhepunkt der Ausstellung.

«Es gibt so viele erstaunliche Künstlerinnen, die nie die Gelegenheit hatten, sich einen Namen zu machen, und Wipf ist definitiv eine von ihnen», sagt O’Dowd. Wipf wurde bisher noch nie im Vereinigten Königreich ausgestellt.

Eine Plastik aus Holz
Eva Wipfs «Schrein III (Madonna de Laghet)», 1964-68, besteht aus mehreren Holzschränken, Seifenschalen, einem körperlosen Uhrensockel und einem Küchenrost, der umfunkioniert zum Fenstergitter den Blick auf einen mittelalterlich anmutenden gemalten Engel freigibt. © Museum Eva Wipf

Ihre Assemblagen setzen Fundstücke von Flohmärkten und ausrangierte Industrieabfälle zusammen. In den Arbeiten der Missionarstochter findet sich häufig eine religiöse Ikonografie, die über die Krise des Wissens und der Glaubenssysteme in einer Welt nach dem Holocaust reflektiert. Das früheste hier gezeigte Werk befindet sich gleich am Eingang der Ausstellung: Wipfs Schrein III.

Wipf macht die Fallen häuslicher Gegenstände buchstäblich, verleiht ihnen aber auch eine göttliche Qualität. Sie verwandelt Alltagsgegenstände in ikonoklastische Schreine, die eine widersprüchliche Vision von Hoffnung und Ambivalenz aufweisen. In den ausgestellten Werken halten sich ein ätherischer Glaube an das Wunderbare und dystopische Szenen des Protests die Waage.

Von Meret bis Eva

Als zölibatäre Frau, die die meiste Zeit ihres erwachsenen Lebens allein lebte, führte Wipf ein Tagebuch, das bis ins Detail sowohl ihren grossen Ehrgeiz als Künstlerin als auch ihre tiefe Unsicherheit beschreibt. Im Juli 1978 zitierte sie in ihrem letzten Tagebucheintrag den chinesischen Philosophen Lao Tzu: «Wer andere kennt, ist weise; wer sich selbst kennt, ist erleuchtet.»

O’Dowd erklärt, dass «Wipf direkt vom Surrealismus und insbesondere von Meret Oppenheim beeinflusst wurde – die beiden korrespondierten gelegentlich. Wir wollten den Einfluss der verschiedenen Frauengenerationen zeigen.»

Die Ausstellung zeigt zwei Werke Oppenheims – Eichhörnchen (1969) und Word Wrapped in Poisonous Letters (Becomes Transparent) (1970), die beide entstanden, als sie nach einer 18-jährigen Pause (oder auch «Krise») in der Schweiz lebte. Allmer erläutert, wie Oppenheim, nachdem sie mit ihrer Familie aus Deutschland in die Schweiz geflohen war, in ihrem Spätwerk den Holocaust und ihre eigene jüdische Identität verdeckt prüft.

Ein Kuststück
Meret Oppenheim: «Word Wrapped in Poisonous Letters (Becomes Transparent)”, 1970. © DACS 2024 Courtesy LEVY Galerie, Berlin/Hamburg

Word Wrapped ist ein minimalistisches Drahtgebilde. Es zeigt die Enden eines Hakenkreuzes, die zu einem dreidimensionalen leeren Gehäuse gefaltet sind, dem Umriss eines ästhetisierten Nichts, das dennoch eine formale Strenge bewahrt. Der Schatten der Drähte fällt behutsam auf eine weisse Fläche, die diesen instabilen, geisterhaften Abdruck trägt.

Mehr zu Meret Oppenheim lesen Sie in unserem Beitrag über die jüngste Restrospektive der Künstlerin – mit Archivmaterial des Schweizer Fernsehens aus den 1950er- und 1960er-Jahren:

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Meret Oppenheim, 1975

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Wer hat Angst vor Meret Oppenheim?

Dieser Inhalt wurde am veröffentlicht Eine grosse Wanderausstellung zeigt nicht nur ihr vielseitiges Œuvre, sondern auch ihren langen Kampf für die Gleichstellung in der Kunst.

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Trägerin der Fackel

Ein Sprung ins Jahr 2017: Öffne meine Lichtung / Open My Glade (Flatten) (2000-2017) besteht aus einer Serie von neun einminütigen Filmen, bei denen die Kamera ausserhalb eines Hochhausfensters platziert ist. Sie fängt Pipilotti Rist ein, wie sie ihr Gesicht gegen das Glas drückt.

Der Effekt ist sichtlich grotesk, sinnlich und surreal – das Rosa ihrer Lippen verwandelt sich zu einem amorphen Spritzer, ihr Haar ist wie Unkraut zwischen ihrem Körper und dem Fenster gefangen. Rist blickt, ihrer eigenen Performance bewusst, direkt in die Kamera, und kritisiert die Weise, wie das Kino eine Illusion von Weiblichkeit verzerrt, gefangen, fetischisiert und entstellt hat.

Bild eines Videos
Standbild aus «Open My Glade (Flatten)», 2000, Videoinstallation von Pipilotti Rist. © Pipilotti Rist

Obwohl der Surrealismus selbst Frauen oft mit einer absolutistischen Vision des Sinnlichen und Nicht-Rationalen in Verbindung gebracht hat, wird dieses Narrativ hier auf spielerische, selbstreflexive Weise wieder aufgegriffen und verweist auf das radikale Widerspruchs-Potenzial der Bewegung.

Angesichts der Tatsache, dass Frauenrechte derzeit weltweit bedroht sind und sich zugleich Rechtsextreme nicht nur in Europa auf dem Vormarsch befinden, ist The Traumatic Surreal eine zeitgemässe und relevante Beleuchtung des Potenzials von Alltagsfragmenten für eine Bricolage als Form des Widerstands.

The Traumatic Surreal Externer Linkist bis zum 16. März 2025 im Henry Moore Institute in Leeds zu sehen. Die Schwesterausstellung Forbidden Territories: 100 Years of Surreal LandscapesExterner Link läuft noch bis zum 21. April im Hepworth Wakefield.

Editiert von Reto Gysi von Wartburg und Eduardo Simantob/gw. Übertragung aus dem Englischen: Petra Krimphove

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