Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Genossenschaften: Weltbewegung für den Frieden

Postkarte Frau mit Korb
Dora Hauth-Trachsler/Schweizersiches Sozialarchiv

Das Wort Genossenschaft ist im Schweizer Alltag ominpräsent. Vergessen ist, dass dahinter einmal eine weltumspannende Bewegung steckt – die nicht nur für Konsument:innenrechte und billigere Mieten, sondern auch für den Weltfrieden eintrat.

«Unsere Macht war zu schwach.» Rudolf Kündig rang 1921 im Basler Stadtcasino um Worte: «Der Glaube, dass wir Genossenschafter einen Krieg verhindern könnten, ist zuschanden geworden.» Der Aufsichtsratspräsident des Verbands Schweizerischer Konsumvereine eröffnete mit seiner Rede den zehnten Internationalen Kongress der International Co-Operative Alliance (ICA).

Als sie sich das letzte Mal in diesem Rahmen getroffen hatten, regierte in Russland ein Zar und in Deutschland ein Kaiser. Zum ersten Mal nach dem Krieg erwartete die «gesamte Genossenschaftswelt» den Kongress «mit grösster Spannung» und «nicht geringeren Erwartungen».

Zum Krieg nahm die genossenschaftliche Internationale seit Jahrzehnten eine klare Haltung ein: Die ICA verstand sich als Bewegung für den Weltfrieden. Die Genossenschaftsbewegung betonte zwar immer wieder, dass sie eine wirtschaftliche und keine politische Bewegung sei. Doch ihr Wirtschaftsverständnis war so umfassend, dass sie vom friedensbringenden Effekt der Genossenschaften überzeugt war.

«Volksversöhnende Arbeit»

Vertreter:innen von Argentinien bis in die Ukraine, von Lettland bis in die USA hörten Kündig im Stadtcasino zu. Alleine die britische Bewegung, wo die modernen Genossenschaften im 19. Jahrhundert ihren Anfang nahmen, schickte hundert Delegierte. Denen, die aus der Sowjetunion anreisen wollten, verweigerten die westeuropäischen Staaten das Visum.

Foto der Teilnehmer:innen
Schweizerisches Sozialarchiv

Am Basler Kongress nahmen aber nicht bloss Genossenschafter:innen teil. Der Schweizer Bundespräsident war ebenso dort wie vier Vertreter von Kantonsregierungen – und der junge Völkerbund. Dessen japanischer Vizegeneralsekretär Inazo Nitobe zeigte in seiner Rede viel Sympathie. Der Völkerbund bringe dem Kongress «grosses Interesse entgegen», er interessiere sich mehr als die meisten Institutionen für die Genossenschaftsbewegung. «Es ist mir klar geworden, dass Völkerbund und Genossenschaften das gleiche Ziel verfolgen», erklärte Nitobe.

Die Genossenschaftsbewegung sei «eine vermittelnde Brücke» zwischen dem «rein kapitalistischen Wirtschaftssystem und dem von den Antipoden, den Kommunisten und den Sozialisten». Der Völkerbund würdige die «völkerversöhnende Arbeit der Genossenschafter».

Gemäss der Historikerin Rita Rhodes sei es der Genossenschaftsbewegung auch während dem ersten Weltkrieg gelungen, Distanz zu den Konfliktparteien zu wahren. Die betagte Britin ist die letzte Verbandshistorikerin der International Co-Operative Alliance ICA.

Mehr

Rhodes sagt: «Den ersten Weltkrieg erlebte die International Co-Operative Alliance als Krieg der Kapitalisten und Imperialisten.» Ohne Unterbruch habe die internationale Bewegung einen Austausch fortführen können, «trotz Zensur und Papierknappheit» verbreiteten sie beispielsweise ihr «Monats-Bulletin» international. Die Texte aus London kamen auch während dem Krieg über die Niederlanden nach Kontinentaleuropa, wo Genossenschafter:innen das englische Original ins Deutsche übersetzten. Die französische Übersetzung steuerte jeweils die Schweizer Genossenschaftsbewegung bei.

«Damit gab es immer ein verbindendes Element für die internationale Bewegung.» Doch die nationalen Genossenschaften konnten sich dem Krieg nicht entziehen: Ihre Mitglieder leisteten Wehrdienst als Soldaten. Genossenschaftsbesitz, etwa Pferde, kam im Krieg zum Einsatz. Manche Regierungen setzten die Regeln des genossenschaftlichen Wirtschaftens ausser Kraft.

Der Kongress von Basel vor 101 Jahren hatte für Rhodes den Charakter eines «Versöhnungsprozesses». «Der Krieg schuf Spannungen und Risse zwischen nationalen Bewegungen. Basel ermöglichte wieder den persönlichen Austausch und gegenseitiges Verständnis, wie der Krieg die einzelnen Bewegungen beeinträchtigt hat.»

Für die kontroversesten Debatten in Basel sorgte der Umgang mit der Sowjetunion. Konnten die dortigen Schwesterorganisationen tatsächlich noch frei wirtschaften, wie die aus London angereiste Vertreterin der Sowjetunion behauptete? Oder waren sie staatlich gleichgeschaltet, wie die französischen Delegierten meinten? Am Ende stimmte eine klare Mehrheit für den Verbleib der sowjetischen Genossenschaften in der internationalen Bewegung.

Platz Kinder turnen
Theodor Hoffmann Staatsarchiv Basel-Stadt

Einen Zweiten Weltkrieg verhindern

Weniger umstritten war die Basler Erklärung der Genossenschaftvertreter:innen gegen jeden Krieg. Der französische Genossenschaftsideologe Charles Gide hat dieses Bekenntnis zu einem «genossenschaftlichen Europa» entworfen und präsentiert. Darin heisst es, eine komplett genossenschaftliche Wirtschaft und eine Gesellschaft auf denselben «sittlichen Grundsätzen» würde die «wesentlichen Ursachen der Kriege» beseitigen. In den einzelnen Ländern sollen sich Genossenschafter:innen für minimale Militärausgaben und die «vollständige Abrüstung aller Staaten» einsetzen.

Die Basler Erklärung mündet in das Bekenntnis, dass die «Genossenschafter aller Länder (…) ohne Furcht vor patriotischen Vorurteilen» einen neuen Krieg mit «einer gemeinsamen Aktion» zum «Abbruch des Kampfes» stoppen wollen. Mit dieser «Aktion» würden die Genossenschafter:innen, wenn «der Wahnsinn der Menschen einen neuen Krieg entfesseln sollte», eine Konfliktlösung durch eine «Schiedsgerichtsentscheidung» erzwingen. Wer dieses Schiedsgericht einsetzt und wie es sich durchsetzt, liessen die Genossenschafter:innen offen. Internationale Gerichte gab es damals noch keine.

Das Vertrauen der Genossenschafter:innen in die eigene Macht und in die Durchsetzungskraft internationaler Organisationen schien immens. Doch bekanntlich kam es anders. Bereits in den 1920ern zerschlug die faschistische Diktatur in Italien die dortige Genossenschaftsbewegung. Währenddessen musste sich der ICA mit den regelmässigen scharfen Anträgen der sowjetischen Funktionäre in der Genossenschaftsbewegung rumschlagen, die die genossenschaftliche Internationale von ihrem pazifistischen Kurs abbringen wollten. Die ICA traf sich in Gent, in Stockholm, in Wien – und im Juni 1933 für eine Sonderkonferenz ein zweites Mal in Basel.

Am Vorabend vor der Konferenz erfuhr die International Co-Operative Alliance per Telegramm, dass zwei Nazifunktionäre als Vertreter aus Deutschland kommen. Im Mai 1933 haben die Nationalisten die deutsche Genossenschaftsbewegung übernommen und gleichgeschaltet. Die Nazis durften teilnehmen – doch sie waren keinen Sitzungstag lang Teil der internationalen Genossenschaftsbewegung: Einer der Nazi-Delegierten ergriff als erster Redner das Wort und verglich Hitlers Machtergreifung mit der französischen Revolution. Das gab Streit. Die Nazis gingen. Es war die ICA, die versuchte einen Kontakt zu erhalten.

Während sich die genossenschaftliche Internationale auf demokratische, pazifistische und fortschrittliche Ideale stützte, waren manche Genossenschaften und Strömungen reaktionär ausgerichtet. Der austrofaschistische Diktator Engelbert Dollfuss, der nach seiner Machtergreifung in Österreich 1934 die führenden Mitglieder der Genossenschaftsbewegung verhaftete, war begeistertes Mitglied einer Landwirtschaftsgenossenschaft. Das genossenschaftliche Weltbild, nachdem reiche Einzelne aus Eigennutz wirtschaften und damit den Wohlstand aller verhindern, war zudem anschlussfähig an antisemitische Weltdeutungen.

Die ICA erneuerte ihre Friedenserklärung auch 1939 noch einmal – und engagiert sich bis heute für «positiven Frieden», wie sie zuletzt an der Generalversammlung in Ruanda festhielt. «Konflikte entstehen aus unerfüllten menschlichen Bedürfnissen», heisst es in der Erklärung von 2019. Genossenschaften hingegen seien auf einer Mission, diese zu erfüllen.

Zwei Frauen in einem Laden
Schon in den 1910er-Jahren setzte der Lebensmittelverein Zürich (LVZ) auf Eigenproduktionen und belieferte seine Kundschaft mit Brot, Fleisch und Kaffee aus eigenen Betrieben. Die genossenschaftlich organisierte Grossproduktion sorgte für attraktive Preise. Sxchweizerisches Sozialarchiv

Bis heute sind Genossenschaften global und in der Schweiz ein wichtiger Teil der wirtschaftlichen Sphäre. Fast 12% der Weltbevölkerung sind gemäss dem «World Co-Operative Monitor» der ICA heute Mitglied einer Genossenschaft.

Allerdings engagieren sich die meisten Genossenschaften heute nicht mehr bei der International Co-Operative Alliance. Der Verband Schweizerischer Konsumvereine VSK, der den Kongress 1921 organisierte, entwickelte sich zur heute grössten Supermarktkette des Landes: Coop. Ende des 20. Jahrhunderts trat das Unternehmen aus der genossenschaftlichen Internationalen aus. Der Grund war eine «organisatorische Neuausrichtung», heisst es auf Anfrage.

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft