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Als die Schweiz auf Abstand ging

Soldaten
Amerikanische Soldaten verlassen fröhlich den Bahnhof von Luzern, um hier ihren Urlaub anzutreten, aufgenommen nach Kriegsende im Jahr 1945. Auf Kosten ihrer Regierung dürfen amerikanische Soldaten als Belohnung für ihre Pflichterfüllung gruppenweise Urlaub in der Schweiz verbringen. Keystone / Str

Als der Zweite Weltkrieg vor 75 Jahren zu Ende ging, lagen Europa und weite Teile der Welt in Trümmern, die Schweiz aber stand verhältnismässig gut da. Der Historiker Jakob Tanner über die Nachkriegszeit und die langen Folgen für das Verhältnis zu Europa.

swissinfo.ch: Über fünfzig Millionen Tote, zerbombte Städte, zerstörte Landschaften, brach liegende Wirtschaften, Flucht und Vertreibung in globalem Ausmass: 1945 lagen ganze Länder in Schutt und Asche. Wie hat die Schweiz das Kriegsende erlebt?

Mann
Jakob Tanner, einstiges Mitglied der Bergier-Kommission, ist emeritierter Professor der Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte an der Universität Zürich. Der 69-Jährige gilt als einer der wichtigsten Zeithistoriker der Schweiz. Keystone / Steffen Schmidt

Jakob Tanner: Es herrschte Erleichterung, überall läuteten die Kirchenglocken. Die Gesellschaft befand sich in einem Schwebezustand. Man wusste ja nicht, was nun kommen wird. Wirtschaftlich stach die Schweiz mit einer intakten Bausubstanz und einer leistungsfähigen Industrie hervor. Gleichzeitig war die Stimmung polarisiert – seit der Kriegsmitte nahmen die Arbeitskämpfe zu und es begann das Ringen um die Zukunft. Insgesamt war das Kriegsende durch eine grosse Offenheit geprägt.

Welche Rolle spielte die Schweiz im Zweiten Weltkrieg?

Dem europäischen Kräftefeld konnte sich die Schweiz nicht entziehen. Sie diente als Handelsplatz, als Golddrehscheibe, als Hotspot für Geheimdienste, als sicherer Hafen für Fluchtkapital und als Zufluchtsort für Verfolgte – wobei die Regierung 1942 erklärte, dass das Boot voll sei und die Grenze für Flüchtlinge schloss.

Dabei hat besonders das Verhältnis zu Deutschland zu Kontroversen geführt.

Für die Schweiz waren die wirtschaftlichen Beziehungen zu den Achsenmächten wichtig, sie entlasteten den Arbeitsmarkt und die Importe ermöglichten den Bau der Alpenfestung. Den Krieg hat die Schweiz dadurch nicht verlängert, dafür war das Wirtschaftspotenzial zu gering. Wohl aber haben sich viele Nazis später in der Schweiz Entlastungsschreiben ausstellen lassen – insbesondere für die Nürnberger Prozesse.

Ein so globaler und so intensiver Konflikt wie der Zweite Weltkrieg konnte nicht einfach urplötzlich aufhören. Deshalb spricht man heute von einer langen Nachkriegszeit. Welchen Einfluss hatten diese Jahre auf die Schweiz?

Bis 1948 wurden wichtige Weichen gestellt. Die Frauen erwarteten am Kriegsende, dass ihr riesiger Einsatz durch das Wahlrecht abgegolten würde. Das Parlament hielt aber an der Meinung fest, Demokratie sei Männersache. Am Ende stand eine halbierte Demokratie, die den männlichen Militärdienst überhöhte und in welcher die Frauen bis 1971 nicht wählen durften.

Zeitgleich entstand eine neue internationale Struktur.

Die Schweiz hat die Gründung der UNO aufmerksam verfolgt. 1920 war sie dem Völkerbund beigetreten und auch 1945 wusste man, dass der neutrale Kleinstaat von einer neuen Sicherheitsarchitektur abhängig war. Doch rasch war der UNO-Beitritt vom Tisch. Die Schweiz engagierte sich zwar in den als «technisch» definierten Unterorganisationen, wollte aber politisch abseits stehen.

Auch in Europa?

Die Schweiz war nach dem Krieg ein Treffpunkt für Europa-Bewegungen. Doch die nationale Politik setzte auf den Alleingang.  Populär war – und ist – die Vorstellung, erst müsse sich Europa verschweizern, bevor sich die Schweiz europäisieren könne.

In diesem Zuge hat die Schweiz lange von sich als «Sonderfall» gesprochen. Sie habe seit 1945 eine ganz eigene Entwicklung genommen.

Einen solchen Exzeptionalismus findet man in jeder Nation. So gesehen gibt es nur Sonderwege. Die Schweiz erfand diese Beschreibung, weil sie 1945 unter starkem Rechtfertigungsdruck stand. Als «Sonderfall» wollte sie ihre Neutralität rehabilitieren und diese Argumente stiessen vor allem in der Innenpolitik auf grosse Resonanz.

Dabei gab es viele Gemeinsamkeiten.

Zum Beispiel das Wirtschaftswunder, das in jedem europäischen Land einen ähnlichen Namen hat. Der Sozialstaat, die Menschenrechte, das Mobilitäts-, Einkaufs- und Heiratsverhalten, all das entwickelte sich auf dem Weg in die moderne Konsum- und Freizeitgesellschaft ähnlich. Und die Schweiz war mit dem europäischen Ausland nicht nur ökonomisch eng verflochten. Der Zuzug von Hunderttausenden von Arbeitskräften aus dem Ausland ermöglichte ein rasches Wirtschaftswachstum. Und trotz ihrer neutralen Haltung verstand sich die Schweiz ganz selbstverständlich als Teil des freien Westens.

Eine weitere Ähnlichkeit liegt in den gemeinsamen Brüchen. Am folgenreichsten stellte sich der Wandel der siebziger Jahre dar.

Der Zusammenbruch des Wirtschaftssystems von Bretton Woods 1971/73 und der Übergang zu freien Wechselkursen haben den Grundstein für den Euro gelegt. Zeitgleich ging die jahrzehntelange Boomphase zu Ende und es entstand eine neue Form des globalen Finanzmarktkapitalismus. All das hatte Auswirkungen auf die Schweiz und veränderte die Machtstruktur grundlegend. Das alte Modell der Rollenkumulation mit parallelen Ämtern in Kultur, Wirtschaft, Militär und Politik erodierte, die wirtschaftliche Führungsebene und der Aktienbesitz wurden stark internationalisiert.

Im Ende des Kalten Kriegs liegt ein weiterer Berührungspunkt.

Nur auf den ersten Blick. Denn mit der wirtschaftlichen Internationalisierung erlebte die Schweiz einen nationalmythologischen Rückschlag. 1992 stellte der Bundesrat ein Beitrittsgesuch zur Europäischen Gemeinschaft. Am Ende dieses Jahres aber verhinderte die nationale Rechte unter Führung von Christoph Blocher mit einer effizienten Kampagne den Beitritt zum europäischen Wirtschaftsraum. Mit dem Bild einer kleinen, humanitären, neutralen und erfolgreichen Schweiz übt man sich seither in mentaler Distanz zur EU – mit Folgen bis in die Gegenwart.

Womit wir im Jahr 2020 angekommen sind: Viele sehen die Werte und Institutionen, die nach 1945 entstanden sind, aktuell unter Beschuss.

Das hängt davon ab, wie man die Gegenwart und die Corona-Krise diagnostiziert. In den Medien werden laufend Bezüge zum Notrecht und zur Unsicherheit des Zweiten Weltkrieges hergestellt. Da entsteht ein spannender Bogen. Allerdings halte ich Kriegsvergleiche für untauglich. Diese Metaphorik verleitet zu falschen Rezepten. Vielmehr muss man sehen, dass nach 1945 ein institutioneller Grundriss entstand, der erstaunlich beständig war. Die UNO und speziell die 1948 gegründete WHO spielen noch immer eine wichtige Rolle und die Idee einer Global Governance ist aktueller denn je.

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