Geschriebene, gesungene, gerappte Wörter
Während der Rap in den französischen Städten eine neue Sprache erfunden hat, spielt der Hip-hop im Graubünden mit der Sprache der Vorfahren.
Das Phänomen ist nicht neu. Seit über einem Jahrhundert nutzt das Rätoromanische (Romantsch) die Literatur als Waffe zur Bestätigung seiner Identität und seiner Existenz.
Rätoromanisch ist kein gesprochener Dialekt. Zuerst gab es handgeschriebene juristische Dokumente, und dank der Reformation kamen ab der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts Bibeltexte dazu.
Aber erst Ende des 19. Jahrhunderts taucht eine eigentliche literarische Produktion auf, die zunächst auf die Verteidigung des Rätoromanischen ausgerichtet war. „Diese Literatur ging in Richtung Nationsbildung», stellt Clau Solèr fest, Soziologe und Professor an der Universität Genf in der Abteilung romanische Literatur und Sprachen, Unterabteilung Rätoromanisch.
Zur Illustration dieser Periode nennt er drei Dichter: Caspar Muoth, Gion Antoni Huonder, Peider Lansel.
Seither hat sich die rätoromanische Literatur weiter entwickelt und sich von der Dimension der ‚nationalen Verteidigung› entfernt, auch wenn noch einige Spuren geblieben sind: „Jeder Autor, jede Autorin sieht auch die Verteidigung der Sprache als Aufgabe», hält Solèr fest.
Die literarische Emanzipation
„Ab Mitte des 20. Jahrhunderts emanzipierte sich die rätoromanische Literatur thematisch, sie fing an, sich mit zeitgenössischen Themen zu befassen. Und ungefähr seit den 1950er- und 60er-Jahren wird vor allem literarische Qualität angestrebt.»
Die grossen Namen der gegenwärtigen Literatur sind Rut Plouda, Leo Tuor und der vor kurzem verstorbene Flurin Spescha. „Eine sehr moderne, manchmal schwierige Literatur, die sich weniger nach den Erwartungen der Leserschaft als nach den literarischen Wünschen der Schreibenden richtet», sagt Solèr.
Eine notwendigerweise zersplitterte Literatur, weil alle in ihrer eigenen Sprache schreiben. Und weil die Einheitssprache ‹Rumantsch Grischun› (RG) noch keine literarische Sprache ist. „Flurin Spescha war wohl der einzige Autor, der eine authentische Literatur auf RG schrieb. Die anderen schreiben lieber in ihrer Sprache, denn das ist für sie die beste Errungenschaft und Identifizierung. Es gibt also eine Gegenbewegung.»
Natürlich spielt im Fall des Romantsch die Übersetzung (auf Deutsch und Französisch) eine wichtige Rolle für die Existenz dieser Literatur ausserhalb der Bündner Täler.
Vom Chorgesang über den Rock zum Rap
Wie in allen Land- und Berggebieten der Schweiz hat der Chorgesang eine lange Tradition und ist vor allem im Graubünden noch stark verankert. Chorleiter Hans Erni (1867-1961) gilt als Vater des rätoromanischen Gesangs.
Heutzutage finden wir Romantsch in verschiedenen Musikgenres wieder. Die bekannteste Sängerin ist sicher Corin Curschellas, welche die rätoromanischen Varianten mit Schweizerdeutsch und Englisch zusammenbringt. Sie vermischt gern Tradition und Moderne, vielfältige musikalische Einflüsse, und arbeitete unter anderem mit Michael von der Heide zusammen.
Radio Rumantsch (RR) unterstützt die rätoromanische Musik über verschiedene Wege, vor allem bietet sie den Künstlerinnen und Künstlern die Möglichkeit, Singles aufzunehmen. Eine der jüngsten Entdeckungen ist die junge Olivia Spinatsch, die neben Journalistin auch Unterhaltungssängerin ist.
Und dann gibt es ‹Bulais›, das einen gepflegten Pop-Rock spielt. Doch die Gruppe, die zur Zeit in der rätoromanischen (und deutschsprachigen) Welt am meisten Aufsehen erregt, ist ‹Liricas Analas›, eine Rapgruppe, die seit 2000 zwei Alben herausgegeben hat und sich in der helvetischen Hip-Hop-Szene einen Namen gemacht hat.
Und besonders erwähnenswert: Das originelle Doppelalbum „Lain Fabular», das 2005 herausgekommen ist, mit 27 ins Romantsch übertragenen Beatles-Songs, gesungen von einer Vielzahl von Künstlern und Künstlerinnen, die meisten von ihnen rätoromanisch, doch wurden auch einige bekannte Deutschschweizer Interpreten mit aufgenommen, so zum Beispiel Stephan Eicher.
Dabei wird „Help» zu „Agid», „Strawberry Fields Forever» wird zu „Frajas giardin» und „All You Need Is Love» zu „Tut è spir amur»…
Sich abheben
Wegen der Vielfalt der rätoromanischen Sprachen ist die Kommunikation sogar innerhalb des Kantons Graubünden schwierig. „Für die Künstlerinnen und Künstler ist es schwer, in mehr als einem Tal Erfolg zu haben. In Zürich ist das viel einfacher», stellt Ursin Lutz fest, Chefredaktor von ‹Punts›, einer Monatssendung, die sich an die Jungen richtet.
‹Punts› ist ein Journal, das sich von anderen abheben, innovativ sein will: „Wir bringen viele nicht-journalistische Texte, es gibt auch Raum für literarische Experimente», erklärt Lutz.
Er ist überzeugt, dass die kulturelle Renovation des Romantsch wirklich existiert. „Ja, die Jungen sind viel motivierter, sie zeigen mehr Stolz. Sie wollen sich von der Masse abheben. Das können sie dank dem Romantsch, es gibt ihnen das Gefühl, eine besondere Kultur zu haben», stellt er fest.
In den französischen Städten muss man, nach amerikanischem Modell, eine eigene Sprache erfinden, um sich von den anderen zu unterscheiden und ‹rap credibility› zu haben. Die jungen rätoromanischen Rapperinnen und Rapper dagegen holen sich die Sprache ihrer Vorfahren wieder, um sich von der Masse abzuheben…
swissinfo, Bernard Léchot
(Übertragung aus dem Französischen: Charlotte Egger)
Der erste rätoromanische Theatersaal im Schloss Riom (Region Surses, im Oberhalbstein) hat seine Tore am 30. Juni 2006 geöffnet.
Es wird unterstützt von der Stiftung Pro Helvetia und dient als Rahmen für Vorstellungen des rätoromanischen Theaters „Origen», das eine Initiative der Union ‚Pro Origen› ist.
Die erste Vorstellung, die dort gezeigt wurde, war die Oper „Benjamin», die von Gion Antoni Derungs nach einem viersprachigen Textbuch des Projektgründers Giovanni Netzer komponiert wurde.
Die Oper basiert auf dem ältesten Theaterwerk der romanischen Literatur, das 1534 von Gian Travers geschrieben wurde.
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