Gilgamesch globalisiert: In Bern wird der älteste Mythos der Welt gespielt
Die Schweizer Theatergruppe "thecodesExterner Link" und das palästinensische Al-Kasaba-TheaterExterner Link wagen sich an den ältesten Mythos der Welt: Sie inszenieren das Gilgamesch-Epos in einmütiger Sprachverwirrung als Theaterstück über Machtmissbrauch und die Hoffnung auf Freundschaft.
«Sein Bein ist so gross wie eine halbe Stromsäule», sagt ein palästinensischer Schauspieler auf Arabisch. Unmittelbar springt ein Schweizer ein und ergänzt auf Deutsch: «sechs Ellen sind seine Schultern breit». Auch wenn der Text unübersetzte Lücken hat, den Zuschauer:innen wird klar, worum es geht – egal ob sie nur Arabisch, Deutsch oder Englisch verstehen. Alle auf der Bühne übersetzen füreinander und tragen mit Musik und Tanz zum besseren Verständnis bei. Manchmal kann man sich auch im arabischen Gesang verlieren, der nicht übersetzt wird, manchmal im deutschen.
In einer weiteren Szene protestiert eine der Schauspielerinnen auf der Probe-Bühne, inmitten einer Szene, in der sie Gilgamesch verführen sollte: «Ich mache nicht weiter. Warum soll ein Mann die Rolle von Gilgamesch spielen?» Die anderen Frauen pflichten ihr bei. In ihrer gemeinsamen Arbeit wechseln die Schauspieler:innen nicht nur zwischen den Sprachen, sondern durchqueren auch die Epochen und Zivilisationen: Der uralte Mythos vom König Gilgamesch wird von der Aktualität produktiv gestört.
Zwei Drittel Gott, ein Drittel Mensch
Die Sprachenvielfalt auf der Bühne hat auch einen praktischen Grund: Die Zuschauer:innen in Bern, wo das Stück am 9. Juni uraufgeführt wird, sollen das Stück genauso verstehen, wie das Publikum später in Ramallah.
Vor drei Jahren erhielt das Al-Kasaba-Theater in Ramallah Unterstützung von Pro Helvetia CairoExterner Link, um ein Projekt in Zusammenarbeit mit einer Schweizer Theatergruppe zu realisieren. Firas Abu Sabbah, der Regisseur des Al-Kasaba und der Schweizer Regisseur Dennis Schwabenland haben sich daraufhin keine einfache Aufgabe gestellt: Zusammen mit ihren Teams beschlossen sie, das Epos des Gilgamesch zu spielen.
Das Gilgamesch-Epos erzählt die Geschichte eines legendären Königs, der über den sumerischen Kleinstaat Uruk herrschte. Uruk, das heutige Warka im Südirak, war um 3000 v. Chr. das Zentrum der sumerischen Kultur. Gilgamesch,zu zwei Dritteln Gott und zu einem Drittel Mensch, war ein unbarmherziger Herrscher.Deshalb beschloss die Schöpfergöttin Aruru, den Steppenbewohner Enkidu zu erschaffen, der Gilgamesch Einhalt gebieten sollte.
Die älteste geschriebene Geschichte der Menschheitsgeschichte behandelt durchaus sehr gegenwärtige und sehr aktuelle Themen, betont Schwabenland: «Sie handelt von Machtstrukturen, Freundschaft und dem Streben nach Unsterblichkeit.»
Werfen Sie hier einen Blick in die Proben des Theaterstücks:
Das Epos und die Gegenwart
In den Diskussionen, die sich zwischen den schweizerischen und palästinensischen Schauspieler:innen auf der Bühne abspielen, werden Themen wie Diktatur, Macht, Frauenrechte und die Situation von Minderheiten angesprochen, jedoch durch persönliche Brillen und im Lichte sehr heterogener Lebenserfahrungen. Auch die Debatten, die während der Vorbereitung und der Proben stattfinden, fliessen in die Produktion ein.
Schwabenland erzählt, wie er bereits 2019 zum ersten Mal mit dem künstlerischen Kernteam seiner Theatergruppe «thecodes» nach Ramallah reiste, um die Schauspielergruppe des Al-Kasaba-Theaters persönlich kennenzulernen und sich auf das Projekt vorzubereiten.
Doch wie bei vielen Projekten verzögerte die Covid-Pandemie alles. Erst vor einem Monat konnte das Schweizer Team nach Ramallah zurückkehren, um vor Ort zu proben. Denn nach einem Versuch im Jahr 2020, über Zoom zu proben, mussten sie alles auf Eis legen, bis man sich wieder treffen konnte. «Es war für uns sehr wichtig, dass wir uns in Person treffen, denn dies ist kein Projekt, das man virtuell realisieren kann», erklärte Schwabenland.
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Die Schweizer Theatergruppe hatte von den Umständen in Ramallah gehört, von den langen Wartezeiten an den israelischen Kontrollposten, den Verhören auf der Rückreise in die Schweiz und den Schwierigkeiten. «Die Tatsache, dass wir dies im Voraus wussten, war nicht sehr hilfreich. Wir waren trotzdem ab und zu schockiert und mussten sogar weinen, nachdem wir ein Museum besucht hatten, das der Besatzungs-Situation Palästinas gewidmet war», erzählt Magdalena Nadolska Bremgartner, die Dramaturgin des Stücks.
«Das Team aus der Schweiz musste zu uns nach Ramallah kommen», sagt Abu Sabbah, «sie müssen wissen, wie es ist, dort zu leben, und umgekehrt sind wir jetzt auch hier, denn wir werden in diesem Theaterstück unsere persönlichen Geschichten gemeinsam erzählen.»
Seit zwei Wochen ist das Team aus Ramallah in der Schweiz und probt mit ihren Schweizer Kolleg:innen in Bern. Firas Abu Sabbah sagt, «Al-Kasaba Theater ist auf ähnliche Kooperationen angewiesen.» Er betont, dass sowohl Al-Kasaba als auch seine Schauspieler und Schauspielerinnen enorm von Erfahrungen dieser Art profitieren: «In Ramallah gibt es nicht viele Theater, deshalb ist es sehr wichtig, mit anderen Theatergruppen aus dem Ausland zusammenzuarbeiten, um Erfahrungen zu sammeln.» Das heisst primär: In einem konfliktfreien Gebiet zu arbeiten.
Die Wahl des Gilgamesch-Epos ist durchaus auch eine Wahl der Hoffnung: Eine Kernszene des Mythos ist ein langer, erbitterter Kampf zwischen dem herrschsüchtigen König und dem Erdwesen Enkidu. Doch alles Ringen nützt nichts, kein Sieger steht fest, der Kampf endet unentschieden: Aus zwei Feinden werden Begleiter, die gemeinsame Abenteuer erleben.
Premiere:
09.06.2022, Grosse Halle in Bern
Weitere Spieltermine:
29./30.09.2022 Theater Roxy Birsfelden, Basel
06./07.10.2022 Theater am Gleis, Winterthur
2022/2023 Al Kasaba Theatre, Ramallah
Produktion:
thecodes – theatercompany dennis schwabenlan
Koproduktion:
Al Kasaba Theatre & Cinematheque Ramallah
Partnerschaft:
Grosse Halle Bern, Theater Roxy Birsfelden, Theater am Gleis Winterthur
Sprachen:
Deutsch, Englisch, Arabisch
Unterstützt durch:
Kultur Stadt Bern, SWISSLOS/Kultur Kanton Bern, Representative Office of Switzerland Ramallah,
Pro Helvetia Cairo, Migros Kulturprozent, Ernst Göhner Stiftung, Landis & Gyr Stiftung, Burgergemeinde, Bern, ArtLink – Südkulturfonds, Stiftung Pro Scientia et Arte
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