Grösser ist besser: Die erste Schweizer Netflix-Serie «Winter Palace» macht es vor

Winter Palace ist die erste Schweizer Serie, die mit dem US-Streamingdienst Netflix zusammen produziert wurde. Mit der Einführung der so genannten «Lex Netflix» dürften solche Koproduktionen in Zukunft häufiger werden. Was bedeutet das für die Schweizer Unterhaltungsindustrie?
«Was ist unser nationales Motto?», fragt der Protagonist André Morel, gespielt vom französisch-schweizerischen Schauspieler Cyril Metzger, in der ersten Folge von Winter Palace. Die Antwort, laut Morel: «Kleinkariert denken». Genau das knüpft er sich im Laufe der acht Episoden der Serie vor. Morel will die Schweiz von diesem Mangel an Ehrgeiz befreien.
Winter Palace ist die erste Schweizer Fernsehserie, die zusammen mit dem US-Streamingdienst Netflix koproduziert wurde. Sie spielt im Jahr 1899 und erzählt die Geschichte des fiktiven Morel, der ein Grandhotel in den Walliser Alpen eröffnet.
Er will sein Heimatdorf – und damit die ganze alpine Schweiz – zu einem Hotspot des internationalen Luxustourismus machen. Die Schweizer Zuschauer:innen im Jahr 2025 wissen: Morels Vision hat tatsächlich eine glorreiche Zukunft.
Ein neues Kapitel der Schweizer Industrie
Morels erklärtes Ziel, über die Schweizer Ambitionslosigkeit zu triumphieren, ist eine gute Metapher für die Bedeutung der Serie für die Schweizer Unterhaltungsindustrie. Ähnlich wie Morels titelgebendes Hotel, in dem schwer zufriedenzustellende Gäste der Oberschicht auf die alpinen Freuden von Fondue und Skifahren treffen, leistet auch die Serie selbst Pionierarbeit.
Es ist die erste Zusammenarbeit zwischen der öffentlich-rechtlichen Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft (SRG) und dem Streaming-Anbieter Netflix. SWI swissinfo.ch ist Teil der SRG.
Erst zum zweiten Mal ist Netflix damit an einer Schweizer Produktion beteiligt. Zuvor hatte der Streamingdienst mit dem Regisseur Michael Steiner und der Zürcher Produktionsfirma hugofilm den Thriller Early Birds aus dem Jahr 2023 koproduziert.
Solche Kooperationen dürften in der Schweiz in Zukunft zunehmen. Seit Januar 2024 verpflichtet die «Lex Netflix» internationale Streamingdienste wie Netflix, Disney+ oder Prime Video, 4% ihres in der Schweiz erwirtschafteten Gewinns wieder in die inländische Film- und Fernsehproduktion zu investieren. Das Filmförderungsgesetz wurde 2022 vom Volk angenommen.
Als radikale Massnahme kann man das Gesetz zwar nicht bezeichnen. In anderen europäischen Ländern, etwa Italien oder Frankreich, sind bereits seit Jahren ähnliche Regelungen in Kraft. Trotzdem markiert die Verabschiedung der «Lex Netflix» den Beginn eines neuen Kapitels in der Geschichte der Schweizer Unterhaltungsindustrie. Winter Palace gibt einen Hinweis darauf, was man von dieser neuen Finanzierungsquelle – sowohl künstlerisch wie auch wirtschaftlich – erwarten kann.

Das Terrain sondieren
Die Serie wurde von Lindsay Shapero in Zusammenarbeit mit Netflix, Radio Télévision Suisse (RTS) und den Produktionsfirmen Point Prod in Genf und Oble in Paris produziert. Die Idee stammt vom Drehbuchautor und Regisseur Jean-Marc Fröhle.
Tatsächlich wurde sie konzipiert, lange bevor der öffentliche Diskurs über die «Lex Netflix» Fahrt aufnahm: «Bei der RTS stehen wir seit 2020 in direktem Kontakt mit Netflix, und besprechen unsere jeweiligen Projekte», sagt RTS-Chefproduzent Patrick Suhner.
Das Resultat ist faszinierend, auch wenn es offensichtlich ein wenig zu sehr darauf bedacht ist, ein möglichst breites und internationales Publikum anzusprechen.
Die Serie ist gespickt mit Klischees: die konservativen Schweizer Bergbewohner:innen, der hochnäsige englische Lord und seine Suffragetten-Tochter, die eingebildete österreichische Schauspielerin, der schiesswütige, Cowboyhut-tragende texanische Ölbaron.
Bis hin zu den breit angelegten Beschwörungen der «typischen Swissness» fühlt sich Winter Palace oft eher wie eine Vision an, wie eine Schweizer Netflix-Produktion aussehen könnte, denn als ganzheitliches Werk, das sich künstlerisch mit vergleichbaren Produktionen messen kann.
Es wäre allerdings zu einfach, dies auf die Beteiligung von Netflix zurückzuführen. Zwar hat der Streamingdienst laut SRFExterner Link offenbar massgeblich dazu beigetragen, dass die einzelnen Episoden jeweils mit einem Cliffhanger enden. Abgesehen davon aber sollte man den kreativen Einfluss des Streaminganbieters nicht überbewerten: «Netflix kam, als die Drehbücher schon geschrieben waren. Sie hatten einige Anmerkungen, aber insgesamt gefiel ihnen das Projekt und sie hatten grossen Respekt vor der bis dahin geleisteten Arbeit», sagt RTS-Chefproduzent Suhner.

Eine Frage der Vision
Der beste Weg für die Zusammenarbeit mit grossen Streamingdiensten sei, sie einfach als weitere Kooperationspartner zu betrachten, sagt Suhner. «Es war nicht kompliziert. Es gab einen Austausch beim Casting und später beim Schnitt. Jedes Mal waren die Diskussionen konstruktiv, so wie es oft der Fall ist, wenn zwei Sender an einer Serie zusammenarbeiten.»
Das Wichtigste sei, dass die verschiedenen Beteiligten dieselbe Vorstellung vom Projekt hätten. Und dass man geeint auftrete gegenüber jenen Partnern, die für die Produktion der Serie verantwortlich sind – in diesem Fall die Produktionsfirmen Point Prod und Oble.
So stellt sich RTS die Zusammenarbeit mit Netflix auch in Zukunft vor. «Wir haben bereits mehrere Serien mit Co-Sendern wie TF1, Arte, France Télévisions und Radio Canada in der Pipeline», sagt Suhner. Es scheint, als sei die Zeit des «Kleindenkens» im Schweizer Fernsehen tatsächlich vorbei.
Das sieht man sowohl an Winter Palace, mit seinem üppigen historischen Setting, seiner Besetzung mit internationalen Schauspieler:innen und seinen französischen und englischen Dialogen, wie auch an der überzeichneten Krimikomödie Tschugger, bei der die ersten zwei Staffeln von SRF und der Schweizer Tochtergesellschaft von Sky Deutschland koproduziert wurden.
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Geld auftreiben
Die wachsenden Ambitionen brauchen jedoch neue Finanzierungsmodelle. Und genau hier können – respektive müssen, dank der «Lex Netflix» – globale Player wie Netflix einspringen. «Wir wussten von Anfang an, dass wir für diese Serie, die 1899 in den Alpen spielt, mehr Mittel als üblich benötigen würden», sagt Suhner.
RTS investierte mit Hilfe der SRG knapp sieben Millionen Franken. Das reichte aber nicht, die Suche nach einem finanzstarken Partner war unumgänglich.
Die Zusammenarbeit mit Netflix habe die Erwartungen an die Serie erhöht, so Suhner. Der Druck auf die Produktion, kreativ und finanziell erfolgreich zu sein, sei höher. Doch gleichzeitig hätten Projekte wie Winter Palace das Potential, das internationale Profil der Schweizer Unterhaltungsindustrie zu schärfen.
Netflix böte eine enorme Plattform für die Sichtbarkeit einer Schweizer Produktion. Ist Winter Palace erfolgreich, so wäre dies auch ein Gewinn für die gesamte Schweizer Film- und Fernsehindustrie.
Editiert von Virginie Mangin/ac; Übertragung aus dem Englischen: Meret Michel/jg
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