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Greina: Kunst, Aktivismus und eine Familiengeschichte

Ein Mann mit Stock auf einem Stuhl
Bryan Cyril Thurston in seinem Atelier: Die ambivalente Darstellung des Künstlers durch seinen Sohn verweist auch auf die potenziell anachronistische Natur der aktivistischen Romantik der 1970er-Jahre. Xenix Filmdistribution GmbH

Ein neuer Dokumentarfilm über den britisch-schweizerischen Künstler Bryan Cyril Thurston liefert ein nuanciertes Plädoyer für die Kraft der Kunst – als eine Form des Umweltschutzaktivismus.

«Das Private ist immer politisch und das Politische immer privat», lautet eine alte Binsenwahrheit. «Alle Kunst ist politisch» eine andere.

Der neue Dokumentarfilm Greina des Schweizer Architekten und Filmemachers Patrick Thurston zeigt sowohl das utopische Potenzial als auch die manchmal ernüchternden Auswirkungen dieser Prinzipien auf.

Der Film ist nach dem Greina-Pass in den Lepontinischen Alpen benannt, einem Gebirgspass an der Grenze zwischen den Kantonen Graubünden und Tessin.

Er spiegelt Thurstons Versuch wider, sich mit dem künstlerischen und persönlichen Erbe seines 91-jährigen Vaters, des in England geborenen Malers, Graveurs und Architekten Bryan Cyril Thurston, auseinanderzusetzen.

Der ältere Thurston ist ein äusserst produktiver bildender Künstler, der seit 1955 in der Schweiz lebt und dessen rund 5000 Werke umfassendes Oeuvre in der Schweizerischen Nationalbibliothek archiviert ist.

Bekannt ist er heute vor allem für seinen künstlerischen Umweltaktivismus, mit dem er in den 1970er- und 1980er-Jahren nationale Berühmtheit erlangte.

Skizzen in einem Buch
Reiseskizzenbuch von Torridon, Schottland, von Bryan Cyril Thurston (2001). Xenix Filmdistribution GmbH

Die Anfänge des Öko-Artivismus

Damals gab es Pläne, auf der Greina-Ebene einen Staudamm zu bauen, um die nahe gelegenen Dörfer Vrin und Sumvitg wirtschaftlich zu beleben. Das Projekt hätte die Greina überflutet und die unberührte Alpenlandschaft in einen künstlichen See verwandelt.

Bryan Cyril Thurston, ein begeisterter Wanderer, der sich in den 1960er-Jahren längst in das Hochplateau mit seinem Bergpanorama (das ihn an die schottischen Highlands erinnerte) verliebt hatte, konnte diesen Gedanken nicht ertragen.

Er ging auf die Barrikaden und half, eine Künstlerbewegung zu mobilisieren, die zahlreiche Protestausstellungen gegen das Staudammprojekt organisierte. «Kunst als aktiver Landschaftsschutz» und «Nur die Poesie kann die Greina retten» waren Thurstons idealistische Parolen.

Zwei Menschen an einer Ausstellung
Ausstellung «Greina» im Geologischen Institut der ETH Zürich, 1975. Xenix Filmdistribution GmbH

Die jahrzehntelangen Kampagnen waren schliesslich erfolgreich. Der Staudamm wurde nie gebaut. Vrin und Sumvitg erhielten für die entstandenen finanziellen Verluste eine Entschädigung aus dem Landschaftsrappen-Fonds. Dieser Fonds belohnt Gemeinden, die sich gegen die Überbauung von Naturerbestätten und für den Naturschutz entscheiden.

Ein alter Kampf neu entfacht

Die Erhaltung der Greina entsprach dem Zeitgeist Mitte der 1980er-Jahre, als die Umweltbewegung aufkam und die gesellschaftliche Angst vor dem Waldsterben wuchs.

In seinem Künstlerkommentar zum Film verbindet Patrick Thurston den Erfolg der Kampagne seines Vaters auch mit dem Entscheid von 1989, das geplante Kernkraftwerk im Basler Vorort Kaiseraugst nicht zu bauen.

Angesichts der hitzigen politischen Debatte, die die Schweiz in den letzten Jahren über ihre Energieversorgung geführt hat, ist dies eine provokative Erinnerung an einen historischen und kulturellen Moment.

Die Angst vor möglichen Versorgungsengpässen, verschärft durch die unsichere geopolitische Lage in Europa, hat diese Diskussionen zu einem vertrauten Wahlkampfthema gemacht.

Ein Mann an einem Tisch
Patrick Thurston vor dem dreiteiligen Greina-Triptychon seines Vaters in Olivone, Kanton Tessin. Xenix Filmdistribution GmbH

Während sich die linken Parteien eher für eine Lockerung der Vorschriften für den Bau von Windkraft- und Photovoltaikanlagen einsetzen, bevorzugen die rechten Parteien den Ausbau der Wasserkraftkapazitäten des Landes.

Zum Entsetzen der Linken hat die Schweizer Regierung kürzlich eine Empfehlung zur Aufhebung des bestehenden Verbots für den Bau neuer Atomkraftwerke herausgegeben – ein Verbot, dem die Schweizer Wähler:innen erst 2017 zugestimmt hatten.

Mit anderen Worten: Greina erscheint in einem politischen und gesellschaftlichen Klima, in dem die Idee, dass Poesie und die Erhabenheit der Natur Vorrang vor der Wirtschaft und der Energieunabhängigkeit der Schweiz haben, vielleicht noch nie so wenig Verständnis gefunden hat.

Familiäre Probleme

Dies verleiht dem ansonsten eher konventionell inszenierten Film nicht nur eine starke politische Grundstimmung, sondern gibt auch den Versuchen des 65-jährigen Patrick Thurston, sich auf der Leinwand (wieder) mit seinem Vater zu verbinden, eine faszinierende zusätzliche Bedeutungsebene.

Die Interaktionen zwischen den beiden – teils Interview, teils Familiengeschichtsstunde, teils Gesprächstherapie – deuten auf den Wunsch eines Sohnes hin, eine schwierige Beziehung zu verarbeiten.

Und auf einen Vater, der sich nicht eingestehen will, dass es etwas zu besprechen gibt. Diese offensichtliche Diskrepanz steht in engem Zusammenhang mit dem künstlerisch-politischen Engagement des älteren Thurston.

Zwei Männer an einem Tisch am Schreiben
Die Leidenschaft für das Zeichnen verbindet Vater und Sohn. Xenix Filmdistribution GmbH

Patrick zufolge «gab es eine tiefe Kluft zwischen mir und meinem Vater. Als Kind erschienen mir seine Bemühungen um den Erhalt der Greina wie ein hoffnungsloser und absurder Kampf zwischen David und Goliath, ein Kampf, der meinen Vater davon abhielt, für mich da zu sein.»

So inspirierend die Greina-Kampagne politisch auch gewesen sein mag, privat waren es «bittere Jahre, Durststrecken, die endlich gelöst werden mussten».

Greina – und im weiteren Sinne auch Patrick Thurston – ist daher in zwei Welten gefangen. Auf der einen Seite feiert er den Triumph des Umweltaktivismus und des künstlerischen Schaffens über die wirtschaftliche Vernunft, wie er von Bryan Cyril Thurston symbolisiert wird. Auf der anderen Seite ringt er mit den erheblichen persönlichen Kosten dieses Triumphs.

Lehren aus Utopia

Dieser innere Konflikt ist jedoch keineswegs ein Zeichen von Schwäche, sondern unterstreicht sowohl die Brisanz des vorliegenden Themas als auch die Gefahr eines nostalgischen Blicks auf die Geschichte der Rettung der Greina vor der «wirtschaftlichen Nutzung».

Der Dokumentarfilmunterstreicht nachdrücklich die Überzeugung, dass die Gegenwart – und insbesondere die Umweltbewegung – aus den utopischen Träumen von vor einem halben Jahrhundert lernen kann und auch sollte. Nämlich, dass es gute Gründe dafür gibt, die Umweltfrage eher aus philosophischer und ästhetischer als aus rein pragmatischer Sicht zu betrachten.

Patrick Thurstons ambivalente Darstellung seines Vaters weist jedoch auch auf die potenziell anachronistische Natur einer solchen aktivistischen Romantik hin.

Bryan Cyril Thurston, ein fast schon stereotyper englischer Typ von leutseligem Griesgram mit einer Affinität zum verstorbenen Prinz Philip, ist in gewisser Weise das Musterbeispiel eines selbsternannten weissen männlichen Retters, der sich in ein soziales Problem einmischt und die Deutungshoheit beansprucht. 

Eine Ebene in den Alpen
Die Hochebene Plaun la Greina (2200 Meter über Meer) zwischen der Surselva (Kanton Graubünden) und dem Bleniotal (Kanton Tessin). Xenix Filmdistribution GmbH

Es ist schwer vorstellbar, dass ein solcher Ansatz bei den heutigen, eher kollektivistischen und praktisch orientierten Umweltbewegungen wie Fridays for Future oder Extinction Rebellion Anklang finden würde – ganz zu schweigen von einer Grünen Partei in der Schweiz, welche die Umweltzerstörung durch eine traditionelle, breit angelegte Politik verhindern will, welche die Sorgen der Wähler:innen um die Energiesicherheit berücksichtigt.

Dennoch wirft Greina als politisch bewusstes Kunstwerk eine Reihe relevanter Fragen auf, etwa was aus Initiativen wie Thurstons Greina-Kampagne geworden ist. Die Natur, darin scheinen sich die beiden Thurstons einig zu sein, ist zu wichtig, um ihr Schicksal den Politiker:innen zu überlassen.

Editiert von Virginie Mangin, Übertragung aus dem Englischen von Michael Heger

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