Guerreiro do Divino Amor: Schweizer «Krieger» vor Venedigs Toren
Der schweizerisch-brasilianische Künstler Guerreiro do Divino Amor (portugiesisch für "Krieger der göttlichen Liebe") hat den Auftrag zur Realisierung des Schweizer Pavillons an der 60. Internationalen Biennale Venedig von 2024 erhalten. SWI swissinfo.ch besuchte den Künstler in seinem Atelier in Rio de Janeiro, um Einblicke in seine Pläne für das grosse Ereignis im kommenden Jahr zu erhalten.
Die 60. Kunstausstellung von Venedig – La Biennale di Venezia findet vom 20. April bis zum 24. November 2024 statt. Das Motto «Foreigners Everywhere» (Überall Ausländer:innen) passt perfekt zum Künstler, der den Schweizer Pavillon realisieren wird.
«Ich spreche sechs Sprachen, keine davon akzentfrei. Überall, wo ich hinkomme, werde ich als Ausländer wahrgenommen», sagt Guerreiro do Divino Amor, der sowohl die schweizerische als auch die brasilianische Staatsbürgerschaft besitzt.
Guerreiro do Divino Amor wurde in Genf geboren und wuchs in Paris, Grenoble, Brüssel und Rio de Janeiro auf. Bekannt ist er für seine audiovisuellen und grafischen Installationen.
Der Künstler erschafft Parallelwelten, die durch Brücken der Anziehung und Abstossung miteinander verbunden sind und auf utopischen und dystopischen Bildern basieren.
Guerreiro do Divino Amor stellt somit das dar, was er seinen eigenen «Kreuzungen» nennt: einen Künstler auf dem Drahtseil zwischen der Gegenwart und der Zukunft aller seiner sechs fliessenden Sprachen.
SWI swissinfo.ch traf Guerreiro do Divino Amor in seinem neuen Atelier in Rio de Janeiro. Es befindet sich im 29. Stock und überblickt eine der Hauptverkehrsadern der Stadt, die rund um die Uhr pulsierende Avenida Rio Branco.
Sein Atelier ist noch leer, abgesehen von einem Bett, einem Tisch und einem Stuhl sowie einer Pflanze, dem Schwert des Heiligen Georg, im Englischen als «Snake Plant» (Schlangenpflanze) oder «Devil’s Tongue» (Teufelszunge) bekannt.
Aus dem Fenster blickt man auf das unendliche Meer an Gebäuden und Bergen; visuelle Geräusche rahmen den Horizont ein. Dieser Blick regt die Kreativität des Künstlers als privilegierten Beobachter an.
«Es war genau das, wonach ich gesucht habe. Es fiel mir schwer, zu Hause zu arbeiten und mich zu konzentrieren. Und jetzt, wo ich so viel Arbeit habe, ist dieser Raum für mich eine Notwendigkeit geworden», sagt er.
In diesem etwa 20 Quadratmeter grossen Atelier wird Guerreiro do Divino Amor seinen Auftrag für Venedig vorbereiten – und nicht in dem alten, schweizerisch anmutenden Stadthaus im Stadtteil Rio Comprido, in dem er zehn Jahren lang gelebt hat.
«Super Superior Civilizations» heisst sein Monumental-Projekt, das für den Schweizer Pavillon vorgesehen ist und politische Mythologien auslotet.
Nach dem Gespräch mit uns reiste er nach Rom, um dort einen Film für sein Biennale-Projekt zu drehen.
SWI swissinfo.ch: Wie lautet Ihr Name auf Ihrer Identitätskarte?
Guerreiro do Divino Amor: Antonie Guerreiro Golay. Ich bin der Sohn von Rosa Guerreiro, einer Brasilianerin, und Erick Golay, einem Schweizer. Mein Künstlername kam zustande, als mein Vater eine Beziehung zu meiner späteren Stiefmutter aufbaute.
Welche Geschichte steckt dahinter?
Der Name entstand aus einem Scherz in einer Kirche, in der mein Vater mit einer evangelikalen Pastorin zusammen war – damals war sie noch nicht einmal Pastorin, sondern einfach eine glühende Anhängerin einer Pfingstkirche (Divino Amor). Sie wollte neue Gläubige gewinnen, und sie überzeugte mich, einer religiösen Heavy-Metal-Band beizutreten.
Damals war ich ein Teenager und stand sehr auf Heavy Metal. Sie kam aus Nilópolis im Bundesstaat Rio de Janeiro, lebte aber in der Schweiz. Das war 1999. Ich kam selbst auf den Namen Guerreiro do Divino Amor.
Tatsächlich war Guerreiro – Krieger – bereits mein Nachname mütterlicherseits. Aber zuerst war alles nur ein Scherz. Als ich dann anfing, Kunst zu machen, habe ich diesen Namen jedoch immer benutzt.
Wie entstanden die Parallelwelten, die Ihre Arbeit auszeichnen?
Mein Entwicklungsprozess verlief sehr sanft und graduell. Er besteht aus Ansammlungen. Meine Arbeit begann 2004 mit einer Flut von Informationen und Erinnerungen, aber auch mit einer Suche nach der Oberfläche der Dinge, nach institutionellen Referenzen, nach dem, was Orte über sich selbst zeigen wollen.
Meine Videos haben immer diese institutionellen Fragmente als Teil der Oberfläche. Im Schweizer Video haben wir die Rede von Bundespräsidentin Simonetta Sommaruga neben Werbevideos für Rio de Janeiro und São Paulo.
Diese Bilderwelt ist konstruiert, um Touristinnen oder Investoren anzulocken. Und sie animiert die Vorstellungskraft über die jeweilige Stadt.
Was haben Sie mit diesem Material gemacht?
Zunächst wurde daraus eine Zeitschrift, The Battle of Brussels (Die Schlacht von Brüssel), in der ich mir einen Krieg zwischen diesen beiden Zivilisationen vorstellte, die ich «Superimperium» und «Supergalaxien» nannte.
Aus dieser Allegorie ist die Zeitung The Battle of Brussels entstanden. In der Schweizer Zeitschrift The Miracle of Helvetia (Das Wunder von Helvetien) präsentiere ich einen äusserst fiktiven Krieg zwischen der Schweiz und Amazonien.
Es handelt sich um eine Fortsetzung von The Battle of Brussels, wobei der Amazonas der Sitz von Supergalaxien ist, die alle anderen möglichen Zivilisationsmodelle darstellen, künftige wie vergangene.
So entstanden parallele Zivilisationen, die in gewisser Weise unterschiedlichen Funktionslogiken folgen. Und die Schweiz wäre der Sitz dieses Superreichs, gewissermassen die Apotheose des Kapitalismus.
Würden die Befehle für eine neue Ordnung aus der Schweiz kommen?
Symbolisch, allegorisch und oberflächlich betrachtet ist die Schweiz wie die Verkörperung der Apotheose dieses Modells, wo alles…
…sauber und keimfrei ist?
Ja, aber nicht nur. Alles ist perfekt, im Gleichgewicht. Das beweist, dass das Modell funktionieren kann.
Denn es gibt ein Gleichgewicht zwischen Natur, Kultur, Technologie, «Rustikalität» und Raffinesse. Alles spielt sich innerhalb einer imaginären Konstruktion dieser perfekten Welt ab.
Wie haben Sie den Auftrag für die Biennale Venedig von 2024 erhaltenExterner Link?
Als ich mein Werk 2022 im Zentrum für zeitgenössische Kunst in Genf präsentierte, war es das erste Mal, dass ich in der Schweiz eine Retrospektive unter Kurator Andrea Bellini zeigen konnte.
Dort habe ich all diese Kapitel in einer spezifischen Umgebung aus Farbe, Licht und Materialien entwickelt und für jedes Kapitel des Atlas eine Installation geschaffen.
Dank dieser Ausstellung wurde ich zusammen mit vier anderen Schweizer Kunstschaffenden eingeladen, eine Projektidee für den Schweizer Pavillon auf der Biennale in Venedig zu entwerfen.
Die Ausstellung in Genf war so erfolgreich, dass ich Bellini bat, mit mir am Pavillon in Venedig zu arbeiten, wenn ich den Auftrag erhalten sollte. Dank dieses grossen Biennale-Projekts habe ich jetzt mehr Zeit und Ressourcen, um mich weiterzuentwickeln und sogar in die dritte Dimension vorzudringen.
Guerreiro do Divino Amor wurde 1983 in Genf geboren. Heute lebt und arbeitet der schweizerisch-brasilianische Künstler vorwiegend in Rio de Janeiro, Brasilien.
Er hat an der École nationale supérieure d’architecture de Grenoble einen Master in Architektur erworben und anschliessend in La Cambre studiert, bevor er seine Ausbildung an der Cimdata Medienakademie in Berlin und an der EAV Parque Lage in Rio de Janeiro abschloss.
2022 war in Genf seine Ausstellung Superfictional SanctuariesExterner Link zu sehen.
Wie sieht dieses neue Projekt aus?
Im neuen Projekt geht es viel um die Architektur der Macht, etwa um Säulen, um Rom, um diese architektonischen Symbole. Wie wurden diese auf der ganzen Welt und in verschiedenen Epochen verwendet? Es ist stets diese Symbolik von Macht und Vorherrschaft.
In diesen Tagen habe ich an den Kostümen für den Film gearbeitet; neben der Architektur hat auch die Mode bei diesen Darstellungen von Macht etwas zu sagen.
Die Arbeit hat etwas Pompöses an sich; sie steigert die Selbstdarstellung der Länder, in der alten Bedeutung von Universalausstellungen, von geopolitischen Spielen der kulturellen Macht. Es ist also so, als ob die Biennale selbst und ihre Giardini (Gärten) bereits Teil der Arbeit wären, denn die Arbeit im Schweizer Pavillon verbindet sich mit anderen.
Beabsichtigen Sie mit Ihrer Arbeit, eine Art Katharsis für die Zielgesellschaft zu schaffen, also für die Menschen an den Orten Ihrer Superfictions?
Alles ist bereits vorhanden. Ein Beispiel? Ich habe einmal meine Mutter zu einem Immobilienmakler mitgenommen, als ob ich eine Wohnung kaufen wollte. Das Immobilienprojekt hiess «Ilha Pura», reine Insel.
Der Name sagt eigentlich alles, denn es war die Wohnanlage, die das Olympische Dorf der Spiele von 2016 in Rio werden sollte.
Die Äusserungen des Verkäufers waren rassistisch und ausgrenzend, erfolgten aber mit grösster Selbstverständlichkeit, da sich Verkäufer und Interessierte an einem Kauf – zumindest theoretisch – als Menschen derselben Klasse empfanden.
Wenn Bilder und Aussagen über eine künstliche Perfektion, die verkauft werden soll, in eine Collage einfliessen, hallt die Leere und Fragilität dieser Darstellungen zurück. Es macht die gewöhnlichen Dinge absurd, grotesk.
Und ich mag es, wenn das Werk an dem Ort ausgestellt wird, an dem es entstanden ist, weil das Publikum dann einen direkten Bezug zu all den Referenzen hat. Ich mag es, wenn die Leute schreien, wenn sie Objekte anschauen, erst recht in der Kunst, wo alles so still ist.
Haben Sie diese Art von Reaktion bei der Ausstellung in Genf erlebt?
Die Leute dort sind normalerweise eher zurückhaltend, aber bei dieser Ausstellung haben sie geschrien, gelacht und geklatscht. Die Leute waren bewegt, manche begeistert. Es hat etwas in ihnen ausgelöst. Ich war sehr gerührt.
Während dieser Schweizer Ausstellung haben die Kuratorinnen und Kuratoren auch Workshops mit Jugendlichen veranstaltet, in denen sie sich ihre eigenen Superfictions vorstellen konnten.
Ich freue mich sehr, wenn meine Arbeiten im Schulunterricht verwendet werden, sei es in Soziologie, Kunstgeschichte oder Geschichte.
Meine Werke sind allegorische Elemente der Volkskultur, wie historische oder mediale Ikonen, die viele Bedeutungen in sich tragen. Schüler:innen erkennen sie sofort. In diesem Sinn lasse ich mich auch vom brasilianischen Karneval inspirieren.
Lässt sich sagen, dass Ihre Arbeit eine soziale, politische und wirtschaftliche Kartografie ist?
Ja, es ist ein Werk der Kartografie. Meine erste akademische Arbeit aus dem Jahr 2002, die sich mit Architektur beschäftigte, handelte von der Kartografie der Machtinstrumente.
Es war ein Werk der historischen Analyse. Und damit begann die Idee der Kartografie in meiner Arbeit, das Projekt hiess «World Super-Encyclopedia, Chapters of an Atlas».
Und die Biennale ist jetzt Teil Ihres persönlichen Atlanten?
Es wird ein neues Kapitel sein. Wir schaffen diese neue grosse Allegorie der Schweiz und Roms, indem wir eine andere Technik verwenden. Vielleicht wird es sogar Gemälde geben. Aber das ist eine Überraschung. Ich kann (noch) nicht darüber sprechen.
Können Sie Guerreiro, den Krieger, von Antoine unterscheiden?
Nein, ich bin ständig beides. Die Leute nennen mich mit beiden Namen. Meine Arbeit hat dazu beigetragen, all diese Teile von mir zusammenzufügen.
Ich bin in verschiedenen Kontexten aufgewachsen, habe zu Hause Portugiesisch gesprochen und in Frankreich studiert. Im Übrigen hat sich mein Vater nicht stark mit der Schweiz identifiziert.
Und war es in Ihrem Leben als Migrant einfacher, sich an bestimmten Orten zu integrieren?
Ich spreche sechs Sprachen, keine davon akzentfrei. Überall, wo ich hingehe, werde ich als Ausländer wahrgenommen. Sogar hier in Brasilien, wo ich mich zu Hause fühle.
Lange Zeit habe ich mich immer sehr bemüht, mich an den jeweiligen Lebensort anzupassen. Hier in Rio de Janeiro gibt es eine grosse Vielfalt. Ich war es immer gewohnt, diese Vielfalt zu erleben.
Es gibt mehrere parallele Zivilisationen in Brasilien. Ich denke, dass meine Arbeit zum Teil von dieser Fähigkeit zur Integration herrührt, die nie ganz gelingt. Aber bei jedem Versuch lässt sich etwas lernen.
Man beobachtet viel, versucht, sich selbst zu mimen, wiederholt Wörter wie ein Papagei und übernimmt einige davon. Aber heute mache ich mir keine Gedanken mehr, ob ich mich integriere.
Einen guten Eindruck von der Ästhetik des Künstlers vermittelt das Video «Cristalização de Brasília» (Kristallisierung von Brasilia), das 2019 in der brasilianischen Hauptstadt gedreht wurde (auf Portugiesisch):
Editiert von Eduardo Simantob und Virginie Mangin/ts, Übertragung aus dem Englischen: Gerhard Lob
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