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Haïfaa Al-Mansour, Stimme aus dem andern Arabien

Wadjda träumt von einem Fahhrad - für Mädchen in der saudischen Gesellschaft ein unverschämter Traum. fiff.ch

Mit ihrem ersten Spielfilm "Wadjda", den sie in Saudi Arabien drehte, gelang der saudischen Filmemacherin Haïfaa Al-Mansour ein Werk, das mehrfach ausgezeichnet worden ist. Eine Begegnung mit einer Frau, die den Schleier gegen Jeans getauscht hat und eine Kunst kultiviert, mit Sanftheit starke Aussagen zu machen.

Die zwölfjährige Wadjda lebt bei ihrer Mutter. Der Vater hat Ehefrau und Tochter verlassen, um eine andere Frau zu finden, die ihm einen Sohn gebären soll. Die Jugendliche träumt von einem Velo. Aber die saudische Gesellschaft findet keinen Gefallen an Mädchen auf Fahrrädern.

Um sich eines zu beschaffen, verfolgt Wadjda verschiedene Strategien. Schliesslich entschliesst sie sich dazu, an einem Wettbewerb im Rezitieren des Korans teilzunehmen, weil den Gewinnern ein hübscher Batzen winkt, der helfen könnte, ihren Traum zu erfüllen.

Das intelligente, etwas schelmische aber aufgeweckte Mädchen neigt dazu, gegen die Regeln der muslimischen Gesellschaft zu verstossen. Sie trägt Turnschuhe und hört amerikanische Pop- und Rockmusik. Darin ähnelt sie Haïfaa Al-Mansour, die sich mit ihren Filmen bemerkbar machen möchte, ohne «die komplexe saudische Gesellschaft, ein durchaus ergiebiges Terrain für Fiktionen, zu schockieren».

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swissinfo.ch: Ihr emanzipiertes Auftreten widerspricht dem klassischen Bild total, das man sich von einer saudischen Frau macht, oder nicht?

Haïfaa Al-Mansour: Ja, vor allem, wenn man weiss, dass ich in El-Zilfi, einer kleinen Stadt in der Provinz aufgewachsen bin. Die Rolle der saudischen Frau hat sich aber entwickelt. Heute gibt es zahlreiche Schriftstellerinnen und Journalistinnen, die für audiovisuelle Medien tätig sind.

Deren Erscheinungsbild hat sich geändert. Nicht alle tragen eine Burka. In dem Land lässt sich heute eine Vielfalt beobachten, was das Aussehen aber auch die Gedanken betrifft.

Die Regisseurin, Drehbuchautorin und Produzentin ist 1974 in Saudi Arabien geboren worden. Sie hat an der amerikanischen Universität in Kairo englische Literatur studiert.

Nach ihrem Studium hat sie in Saudi Arabien gearbeitet und dort die drei Kurzfilme «Who?», «The Bitter Journey» und «The Only Way Out» gedreht.

2005 ist sie bei der Präsentation ihres ersten Dokumentarfilms «Woman without shadows» ihrem künftigen Mann begegnet, einem amerikanischen Diplomaten.

Das Paar liess sich später in Australien nieder, wo die Regisseurin an der Universität Sydney in Filmtechnik einen Masterabschluss macht.

Nach einem Aufenthalt in Washington zog das Paar mit seinen beiden Kindern nach Bahrain.

swissinfo.ch: Woher kommt ihre Leidenschaft fürs Filmemachen?

H.AI-M.: Ich gehöre zu einer Familie mit zwölf Kindern. Um uns ein Vergnügen zu bereiten, liessen uns die Eltern amerikanische, indische oder ägyptische Videos anschauen. Kino und Fernsehen erlaubten es, uns dem bescheidenen Milieu zu entziehen und die Welt zu entdecken.

Später, als ich ins Berufsleben einstieg, wurde mir bewusst, dass die Stimmen der saudischen Frauen nicht gehört werden. Deshalb wollte ich meine Stimme bemerkbar machen. Filme waren für mich ein Ausdrucksmittel. Dank eines Kurzfilms hatte ich die Gelegenheit, mich an einem Film-Wettbewerb in Abu Dhabi vorzustellen.

swissinfo.ch: Als Regisseurin sind Sie in Ihrem Land, wo es keine Filmproduktion gibt, eine Pionierin.

H.AI-M.: Ich sage es mit viel Stolz: Ich bin tatsächlich die erste saudische Regisseurin. Was aber nicht heissen will, dass die Filmkunst in Saudi Arabien einen Platz gefunden hat. Aber die Filmkultur beginnt, langsam Wurzeln zu schlagen.

Ich wünsche mir, dass «Wadjda» den Jungen die Türen öffnet und die Frauen ermutigen wird, an sich und ihre Fähigkeiten zu glauben, und dass sie immer versuchen, ihren eigenen Weg zu finden.

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swissinfo.ch: Wie sind Sie auf die Figur von Wadjda gekommen und wie haben Sie ihre junge Schauspielerin gefunden, die eine eindrückliche Leistung zeigt?

H.AI-M.: Anfänglich wollte ich einen Film über meine Stadt, meine Eltern und meine Schule drehen. Aber dann hat die freundliche, spontane Persönlichkeit meiner kleinen Nichte mich zur Filmfigur inspiriert. Es hat mich sehr viel Mühe gekostet, eine geeignete Schauspielerin zu finden.

Die Rekrutierung von Schauspielern via Medien existiert im arabischen Raum nicht. Deshalb mussten wir fürs Casting auf lokale Produktionsgesellschaften ausweichen, die junge Sänger und Tänzer für Feste und Feierlichkeiten rekrutieren.

Auf diesem Weg habe ich Waad Mohamed auswählen können, die bei einem kleinen Theater mitspielte. Für die Dreharbeiten ist sie in Jeans und «All Star»-Schuhen erschienen und aus ihrem Kopfhörer drang Musik von Justin Bieber. Ein kleines Mädchen, das zur Weltjugend und Internetgeneration gehört.

swissinfo.ch: Und weshalb wünscht es sich so sehr ein Fahrrad?

H.AI-M.: Weil es auch Sinnbild für Beschleunigung, Freiheit, Elan ist. Aber es ist ein sanftes Vehikel, das nicht schockiert. Es passt zu meiner Handschrift. Ich suche den Dialog, nicht die Konfrontation.

Der Spielfilm «Wadjda» kam 2012 ins Kino. Zuerst wurde er am Filmfestival Venedig gezeigt.

Bei der Produktion des Films in Saudi Arabien war die Regisseurin mit verschiedenen Schwierigkeiten konfrontiert, vor allem bei Dreharbeiten auf der Strasse.

«Weil die saudische Gesellschaft in der Öffentlichkeit nicht durchmischt ist, musste ich meine Arbeitsweise ändern und öffentliche Räume so gut wie möglich meiden. Bei einer Strassenszene musste ich mich in einem Van verstecken und meine Leute mit einem ‹Walkie-Talkie› instruieren», erzählt sie gegenüber swissinfo.ch.

«Wadjda» wurde finanziell vom saudischen Prinzen Al-Walid ben Talal (Medienkette Rotana) unterstützt.

Die Koproduktion mit der deutschen Filmproduktion Razor hat bei internationalen Festivals bereits mehrere Preise erhalten, darunter:

– Bester Film in der Kategorie «Kunst» und «Drehbuch» sowie internationaler Filmkritikpreis in Venedig

– Bester Film und beste Schauspielerin in Dubai

– Publikumspreis in Freiburg

swissinfo.ch: Alle Ihre Schauspieler sind Saudis. Die Frauen dürfen ohne Schleier spielen, also vor den Augen der ganzen Welt, aber nicht auf der Strasse. Wie erklären Sie diesen Widerspruch?

H.AI-M.: Saudi Arabien ist voller Widersprüche. Es ist zwar ein konservatives Land, aber unter dem Schleier verbergen sich sensible Frauen, die gerne lachen, fröhlich sind und das Leben lieben.

swissinfo.ch: Diese Sensibilität sickert bei den Themen durch, die Ihr Film aufgreift, wie die Heirat Minderjähriger, die illegale Einwanderung oder die Tatsache, dass sich die Frauen nicht frei bewegen können… Lauter heikle Themen, die Sie mit Behutsamkeit behandeln. Was waren Ihre Überlegungen dahinter?

H.AI-M.: Ich wollte die Kultur des Landes respektieren und meine Gedanken den Saudis mittels eines Films ausdrücken, ohne sie zu schockieren. Ich glaube, dass ein Filmemacher die Inspirationen in seinem Umfeld schöpft.

In einem Land, das gegenüber Filmen ängstlich ist, wollte ich den Menschen eine Geschichte erzählen, in der es um ihr Leben geht.

swissinfo.ch: Hat der Film in Ihrem Land Reaktionen ausgelöst?

H.AI-M.: Nein, ich habe keine Rückmeldungen erhalten. Aber viele Saudis sind nach Dubai gekommen, als der Film dort 2012 im Rahmen eines internationalen Festivals gezeigt wurde. «Wadjda» hatte zuvor am Filmfestival von Venedig von einer umfangreichen Berichterstattung der saudischen Presse profitiert.

swissinfo.ch: Von welchem Saudi Arabien träumen Sie?

H.AI-M.: Von einem Land, wo Toleranz, Solidarität und Offenheit anderen gegenüber herrscht ….und wo die Frauen einen höheren Stellenwert im öffentlichen Leben haben.

(Übertragung ins Deutsche: Peter Siegenthaler)

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