Das kleine Mädchen, das die Kinoleinwand eroberte
Heidi, das fröhliche und meist optimistische Schweizer Mädchen, ist zurück, wo es hingehört: in den Kinos. Doch braucht die Welt, nach Dutzenden von Adaptionen, vom schwarz-weissen Stummfilm bis hin zum Manga, wirklich noch eine weitere Heidi-Filmversion?
«Die letzte grosse Filmversion, die international Erfolg hatte, stammt aus den 1950er-Jahren – das war vor zwei Generationen», erklärt Alain Gsponer, der Regisseur des neusten Films, gegenüber swissinfo.ch. «Und das Material ist derart reichhaltig, dass man sagen könnte, jede Generation braucht ihr eigenes Heidi.»
Es ist nicht das erste Mal, dass sich Gsponer mit Heidi befasst, dem Waisenmädchen, das bei seinem misanthropischen Grossvater in den Bergen im Kanton Graubünden untergebracht wird und später als Spielgefährtin für die an den Rollstuhl gebundene Klara nach Frankfurt geschickt wird, bevor sie, krank vor Heimweh, zurückkehrt zum Grossvater und dem Ziegenhirten Peter. Klara wird ihr folgen und, nachdem sie Zeit in der stärkenden Luft der Schweizer Berge verbracht hat, schliesslich auch wieder gehen lernen. (Vielleicht ist dies kein Film für Eltern mit jungen Kindern in Rollstühlen…)
Als Student hatte der heute 39 Jahre alte Regisseur Gsponer einen kurzen Animationsfilm über Spyris Heldin gemacht. «Ich machte mich lustig über das Bild der Schweiz, die sich mit Hilfe Heidis und dieser gemütlichen, idealen Welt verkaufte. Es war eine Satire. Tatsächlich erzählten die Romane [die Geschichte von Heidi war ursprünglich in zwei Teilen veröffentlich worden] etwas anderes. Es ging vielmehr um ein soziales Drama, das die existenziellen Probleme der Schweiz von damals zum Thema hatte», sagt Gsponer.
«Es war uns wichtig, mit diesem Film zu zeigen, dass Leute in der Schweiz damals unter Hunger litten, und andere, wie der Grossvater, geächtet wurden. Die Leute führten oft ein sehr hartes und wortkarges Leben – es war nicht einfach eine gemütliche Welt.»
Der Roman
Heidi, das 1880 veröffentlichte Buch von Johanna Spyri, ist das mit Abstand bekannteste Werk der Schweizer Literatur. Die Geschichte von Heidi, ursprünglich in zwei Teilen veröffentlicht («Heidis Lehr- und Wanderjahre» und «Heidi kann brauchen, was es gelernt hat»), wurde weltweit mehr als 50 Millionen Mal verkauft.
Heidi wurde aus dem Deutschen in rund 50 Sprachen übersetzt und über ein Dutzend Mal verfilmt, darunter 1937 in einer Version mit Shirley Temple als Heidi.
Der neuste Film von Alain Gsponer mit den Darstellern Anuk Steffen und Bruno Ganz kommt in der Deutschschweiz am 10. Dezember 2015 in die Kinos.
Natürlicher Star
Die aktuelle Generation soll also mit dem neuen Film eine authentische, wenig romantisierte Umsetzung von Spyris Roman erhalten. An der Spitze der hervorragenden Besetzung in der schweizerisch-deutschen Co-Produktion findet sich der Schweizer Filmstar Bruno Ganz, der als Grossvater entsprechend grantig ist (zumindest am Anfang). Heidis Rolle spielt die neun Jahre alte Neueinsteigerin Anuk Steffen, die sich mit ihrem liebenswerten Grinsen gegen 500 Rivalinnen durchzusetzen vermochte.
«Die Anforderung war, dass sie aus der Region kommt und diesen Deutschschweizer Dialekt spricht», erklärt Gsponer. «Die Auswahl war gar nicht so gross!» Für das Publikum in Deutschland und Österreich müssen die Deutschschweizer Dialoge allerdings auf Hochdeutsch synchronisiert werden.
Schon beim ersten Casting habe er Steffen aufregend gefunden, weil sie «diese lebhaften Augen hat und sich sehr intelligent benahm. Ich suchte nach einer Person mit Energie, die gleichzeitig zerbrechlich wirkt und in deren Augen man sehen kann, was sie durchgemacht hat», so Gsponer.
Wohl der grösste Star dürfte jedoch die Landschaft sein. Die Bergszenen wurden in und um das für einen Film äusserst attraktive Dorf LatschExterner Link gedreht, im Osten des Kantons Graubünden, wo auch der Film von 1952 gedreht worden war.
Szeneneinstellungen zu Beginn zeigen die prächtigen Wiesen, Täler und Gipfel der Berge – fast exzessiv –, und es ist denn auch nicht überraschend, dass der Kanton Graubünden sich mit 150’000 Franken am Filmbudget von 8,5 Mio. Franken beteiligte (die Schweizerische Radio- und Fernseh-Gesellschaft SRG SSR, die Muttergesellschaft von swissinfo.ch, gehört ebenfalls zu den Unterstützern der Produktion).
«Heidi hat dem Tourismus in der Schweiz sehr viel geholfen. Heidi und seine Geschichte sind zu einem Symbol dafür geworden, wie Menschen auf aller Welt die Schweiz sehen. Heidi ruft Gedanken an wunderbare Berge und Alpenlandschaften hervor, an ein Leben frei von städtischen Sorgen», erklärt Véronique Kanel von Schweiz Tourismus gegenüber swissinfo.ch.
«Die interessanteste Auswirkung der Heidi-Geschichte auf den Tourismus hatte sicher der japanische Zeichentrickfilm von 1974Externer Link von Hayao Miyazaki, der Generationen von Touristen aus Japan in die Schweiz lockte, die das richtige Land von Heidi sehen wollten. Der Film wurde rund um die Welt am Fernsehen gezeigt und erreichte auch in anderen Ländern wie Italien Kultstatus.»
Schub für den Tourismus
Hans-Jörg Müntener, der das Verkehrsbüro für das «Heididorf» in MaienfeldExterner Link leitet, wo die Romane von Spyri beginnen, erklärt, die mehr als 100’000 Besucherinnen und Besucher pro Jahr generierten für die Region einen Mehrwert von 5 Millionen Franken.
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Die internationalen Gesichter einer Schweizer Legende
Von diesen Touristen komme etwa die Hälfte aus Asien. In den letzten drei Jahren seien auch viele Gäste aus den Golfstaaten angereist. «Diese Leute geben pro Tag zwischen 350 und 500 Franken aus, während es bei Deutschen und Schweizern nur zwischen 50 und 80 Franken sind», so Müntener.
Trotz diesen finanziellen Gewinnen gibt es Widerstand gegen einen Ausbau der Infrastruktur, zum Beispiel gegen den Bau einer «Alpöhi-Hütte» [Hütte des Grossvaters]. Das Raumplanungsamt sei dagegen, erklärt er.
Doch können Stereotypen nicht auch Probleme verursachen – zum Beispiel für Leute, die ein modernes und kosmopolitisches Image der Schweiz vorantreiben wollen?
«Schweiz Tourismus fördert alle Aspekte der Schweiz – Berge und Natur, aber auch die urbane und moderne Schweiz», sagt Kanel. «Heidi mag ein Stereotyp sein, aber überall auf der Welt braucht der Tourismus starke Symbole, um die Leute anzuregen, davon zu träumen, eine bestimmte Region oder ein bestimmtes Land entdecken zu wollen.»
Stereotypen
Für Paul Ruschetti, Soziologe am Institut für Tourismus und Freizeit an der Hochschule für Technik und Wissenschaft in Chur, besteht «das Bild eines Landes zu einem grossen Teil aus Stereotypen, deren zentrale Merkmale sich kaum verändern».
«Die Schweiz namentlich wird wahrgenommen als Land mit viel Natur und einer wunderbaren Landschaft, mit einer hohen Lebensqualität. Zudem gilt sie als zuverlässig und vertrauenswürdig. Befragungen von Schweiz-Besuchern haben über Jahre ergeben, dass die Natur und die Landschaft eindeutig die wichtigsten Beweggründe sind, das Land zu besuchen.»
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«Das Kind als ‹Heilsbringer› ist ein sehr beliebtes Sujet»
Was Heidi angeht, erklärt Ruschetti, die Erfahrungen des Mädchens in den Alpen «sprechen eindeutig universelle Werte an, Gefühle und Sehnsucht in einer zeitlosen Art und Weise, und über geografische und kulturelle Trennlinien hinweg».
«Die Hauptthemen der Heidi-Geschichte sind Solidarität und Verbundenheit, sowie eine Nähe zur Natur, zu Tieren, dem Leben in den Alpen – und nicht zu vergessen, Einfachheit, Lebensfreude und ein Verlangen nach Freiheit. Dazu kommt die Tatsache, dass die Geschichte eine klare Handlung, markante Charaktere und ein Happy-End hat.»
Herausforderungen
Doch wenn es ums Filmemachen geht, kann die wunderbare Schweizer Landschaft auch ihre Schattenseiten haben. «Wir hatten Pech mit dem Wetter», erzählt Gsponer. «Wir drehten im Sommer [2014], und dort oben schneite es einige Mal! Die Kinder mussten barfuss herumrennen und erfroren fast. In der Nachbearbeitung mussten wir oft Farbe einsetzen, um blaue Lippen zu retuschieren.»
Und dann waren da auch die Tiere. «Ziegen sind Rudeltiere, die am Morgen den Berg hoch klettern wollen, um zu ihrem Essen zu kommen, und am Abend kommen sie wieder herunter. Wir hingegen wollten ganze Tage entweder unten im Tal oder oben auf dem Berg verbringen. Wir versuchten, Szenen zu drehen, in denen die Tiere nach oben getrieben wurden, doch wenn wir am Nachmittag um drei Uhr drehten, wollten die Ziegen sich nicht nach oben bewegen. Wir mussten sie wirklich dazu zwingen!»
Spiritualität der Natur
Für die Drehbuchautorin Petra Volpe war die grösste Herausforderung, «dem Material treu zu bleiben und nicht dazu verführt zu werden, das Ganze mitreissender und aktionsgeladen zu machen. Ich kann nicht mit Pixar konkurrieren!», sagt sie.
«Als ich die Geschichten las, war ich sehr bewegt. Ich hatte sie als Kind nie gelesen. Ich wuchs auf mit den Serien im deutschen Fernsehen [von 1978] und dem japanischen Manga auf, und ich fand in den Romanen etwas, was ich in anderen Heidi-Adaptionen nicht gesehen hatte», erzählt sie im Gespräch mit swissinfo.ch.
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Auf dem Filmset des Schweizer Klassikers
«Johanna Spyri schrieb in sehr präziser Weise über Armut in der Schweiz, über die harten Seiten des Lebens, darüber, wie hart das Leben für Kinder, für Waisen war. Sie wurden praktisch einfach herumgeschoben – niemand wollte sich um sie kümmern.»
Eine weitere Herausforderung war, einerseits dem Quellmaterial gegenüber treu zu bleiben, andererseits den Film für ein modernes, zeitgenössisches Publikum attraktiv zu gestalten.
«Religiosität ist in den Romanen von Johanna Spyri ein sehr wichtiges Element. Im zweiten Band spricht Heidi immer wieder über Gott und bekehrt alle – der Arzt findet zu Gott, Klaras Vater findet zu Gott, alle tun es», erklärt Volpe.
«Ich konnte all das nicht nachvollziehen, da ich Atheistin bin, aber es gibt bei Johanna Spyri auch eine Spiritualität, die über die christliche Religion hinausgeht. Es geht um ihre tiefe Verbundenheit mit der Natur, die auch ihre Charaktere ausweisen – es gibt etwas Göttliches in der Natur, das über Worte hinausgeht. Ich wollte daher mehr darauf fokussieren: Die Natur wird für Heidi zu einem spirituellen Ort, wo sie herausfindet, wohin sie gehört, und wo sie sich selbst sein kann.»
Für eine säkulare Generation
Ein deutlicher Unterschied zwischen diesem Film und den Büchern (und dem Film von 1952), ist, dass er nicht damit endet, wie der Grossvater einen Gottesdienst besucht und danach wieder in die Dorfgemeinschaft aufgenommen wird. Volpe streitet ab, dass die Religion aus dem Film entfernt worden sei, um dessen Verkauf in nicht-christlichen Ländern nicht zu schmälern.
«Gar nicht. Es war meine persönliche Vision, die ich den Produzenten vorschlug. Für mich ist in der Heidi-Geschichte auch wichtig, dass sie lernt, zu lesen und zu schreiben, nicht zu lesen und zu beten, wie in den Romanen. Ich dachte mir, wenn sie lernt zu schreiben, dann kann sie Geschichten schreiben und Autorin werden. Sie hat eine Zukunft, eine coole Zukunft für ein Mädchen aus jener Zeit.»
Volpes vorheriger Film, «Traumland»Externer Link, für den sie das Drehbuch schrieb und Regie führte, drehte sich um eine Prostituierte in Zürich. Die Autorin stimmt zu, dass der Film auf eine merkwürdige Art Ähnlichkeiten mit Heidi habe.
«Die Prostituierte in dem Film ist auch ein Heidi – alle nutzen sie aus, wie Heidi. Alle wollen etwas von dem Mädchen, weil sie so rein, wunderbar und tolerant ist, und einfach alle akzeptiert. Vielleicht ist es auch eine Geschichte von Mädchen, von jungen Frauen – alle wollen ein Stück von ihnen, und nur selten haben sie die Macht, selber irgendetwas dazu zu tun. Doch Heidi hat zum Glück eine Zukunft.»
(Übertragung aus dem Englischen: Rita Emch)
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