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«Das Kind als ‹Heilsbringer› ist ein sehr beliebtes Sujet»

Ist der Buch- und Leinwandheld Harry Potter ein modernes Heidi? Die Diskussion ist eröffnet. Keystone

In einer Zeit grosser sozialer und politischer Unsicherheit in Europa kommen innerhalb weniger Monate zwei nostalgische Schweizer Kinderbuch-Klassiker ins Kino. Ein Zufall? Eine Professorin für Jugendliteratur und Medien erklärt die ewige Beliebtheit von Geschichten wie Heidi.

Viele Kritiker stellen Gemeinsamkeiten – aber auch Unterschiede – zwischen den beiden Kinderbuch-Klassikern und den eskapistischen Heimatfilmen der 1950er- und 60er-Jahre fest. Beide Filme (HeidiExterner Link und Schellen-UrsliExterner Link) spielen in einer wunderschönen alpinen Umgebung, in der ein süsses Kind verschiedene Herausforderungen meistern muss. Auch die Heimatfilme spielten draussen und hoben die heilende Wirkung der Natur hervor – ein zentrales Thema auch bei Heidi.

Ingrid Tomkowiak UZH

Die neuen Filme scheinen einen Nerv zu treffen. So gehört der erst kürzlich in den Kinos gezeigte Schellen-Ursli bereits zu den zehn erfolgreichsten Schweizer Filmen aller Zeiten.

swissinfo.ch sprach mit Ingrid TomkowiakExterner Link, Professorin am Institut für Sozialanthropologie und Empirische Kulturwissenschaft (ISEKExterner Link) der Universität Zürich, über diese Filme und deren Wirkung.

swissinfo.ch: Warum gibt es in der Schweiz gegenwärtig ein Revival von Heimatfilm-ähnlichen Werken?

Ingrid Tomkowiak: Wann immer Heimat auf der Leinwand erscheint, hat das etwas mit einer Krise zu tun – nicht unbedingt eine wirtschaftliche Krise, es kann eine politische oder gesundheitliche sein; Hauptsache: Krise. Dann suchen die Menschen einen Ort, wo sie sicher sein können.

Solche Plätze findet man oft dort, wo man Heimatgefühle empfindet, in einer natürlichen, so unberührt wie möglichen Umgebung. Manchmal gehört eine Dorfgemeinschaft dazu, manchmal sind es isolierte Bergbauernhöfe. Doch es sind Orte, wo Menschen jemanden heilen oder gesundwerden können – ohne Ansprüche des Alltags.

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Das ist besonders in Krisenzeiten klar, wenn alles offen und unsicher ist – ob die Welt friedlich bleibt, ob man in den nächsten Jahren noch eine Stelle oder ein Haus hat, oder ob man gesund bleibt.

swissinfo.ch: Momentan ist die Einwanderung ein grosses Thema in der Schweiz. Glauben Sie, das spielt eine Rolle, wenn man in eine Zeit zurückblickt, als noch nicht so viele Leute fremd waren? In solchen Filmen sind selten fremdländische Gesichter zu sehen…

I.T.: Klar könnte das ein Faktor sein. Doch ich denke, man kann es – Beispiel Heidi-Film – nicht so einfach über die Kante Heimatfilm brechen. Die Sehnsucht nach Heimat kann vielleicht etwas damit zu tun haben, dass sich die Menschen durch Einwanderer bedroht fühlen.

Dies kann gerechtfertigt sein oder nicht. Die Abstimmung [vom 9. Februar 2014, als sich das Stimmvolk für eine Beschränkung der Einwanderung aussprach] zeigte, dass jene Gegenden mit den wenigsten Einwanderern am meisten Angst vor diesen hatten!

Doch Heimatfilme haben vielleicht andere Hintergründe. Besonders bei Heidi und Schellen-Ursli würde ich sagen, die Leute machen einfach gerne Filme aus Klassikern der Kinderliteratur. Heidi ist ein internationaler Klassiker und wurde bereits so oft verfilmt, dass jede Generation ihren eigenen Heidi-Film hat.

swissinfo.ch: Gibt es Unterschiede zwischen diesen neuen Filmen und dem Heimatfilm der 1950er- und 60er-Jahre?

I.T.: Definitiv. Die Filme der 50er und 60er wurden unter dem Einfluss des Kalten Krieges gedreht. Die Filmemacher wollten diesem Eindruck – von Angst, Bedrohung und zerstörten Landschaften – entgegenwirken, mit heilender Natur und heilenden Menschen. Deshalb wurde im Heimatfilm der Unterschied Stadt-Land stark betont. Das Ziel war immer die Kernfamilie – die Frauen waren nie fest angestellt, die Kinder waren nie ohne elterliche Lenkung, usw.

Heimatfilm

Solche Filme waren in den deutschsprachigen Ländern zwischen dem Zweiten Weltkrieg und den 1970er-Jahren populär.

Heimatfilme wurden immer draussen gedreht, meist in den Alpen oder im deutschen Schwarzwald. Sie waren sentimental und folgten einfachen Moralvorstellungen, mit dem Fokus auf Liebe, Familie, Freundschaft und Landleben – unberührt von alltäglichen Problemen wie Krieg und Zerstörung.

Die Geschichten waren ausnahmslos aufgebaut zwischen einem guten und einem schlechten Charakter, die um die Gunst einer Frau kämpften. Der Gute siegte immer. Viele Bollywood-Filme folgen auch heute noch diesem Muster.

Auch in der Schweiz wurden zahlreiche Heimatfilme gedreht, besonders in den 1950er- und 60er-Jahren. Eine neue Untergruppe ist der neue Heimatfilm. Dieser dreht sich um die Unterschiede zwischen städtischem und ländlichem (oft alpinem) Lebensstil in der Schweiz und die Herausforderungen, die diese stellen. Die Geschichten erinnern oft an ein Märchen.

Einige Beispiele: «Nur ein Sommer» (2008), «Sennentuntschi» (2010), «Der Verdingbub» (2011), «Clara und das Geheimnis des Bären» (2012), «Die Schwarzen Brüder» (2013).

Der neue Heimatfilm befasst sich mehr mit zeitgenössischen Problemen. In der Zwischenzeit hat sich das Familienbild verändert – neben der Kernfamilie gibt es auch andere Modelle. Schwule und Lesben erscheinen im neuen Heimatfilm, Firmen gehen Bankrott, Banken wird die Schuld gegeben, wenn Bauernhöfe unter der Schuldenlast zusammenbrechen.

Auch werden die Städte – ausser in Filmen mit literarischer Vorlage wie Heidi und Schellen-Ursli – im neuen Heimatfilm nicht mehr so stark dämonisiert. Zwar sind sie belebt und hektisch, und die Leute sind froh, wenn sie aufs Land gehen können. Doch es bedeutet nicht das Ende der Welt, wenn sie zurück in die Stadt gehen!

In den neuen Filmen wird das Leben immer noch grob vereinfacht und etwas idyllisch dargestellt, und unangenehme Dinge werden übermalt. Doch nie in diesem Ausmass wie in den 50er- und 60er-Jahren.

swissinfo.ch: Heidi wurde dutzende Mal verfilmt. Warum bleiben diese Filme so beliebt?

I.T.: Heidi behandelt ein paar Grundthemen: Die Beziehung zwischen Stadt und Land ist ein häufiges Thema in der Literatur, wie auch Waisenkinder und die Genesung in der Natur. Ebenso der traumatisierte Grossvater, der vom Grosskind «gerettet» oder zurück in die Gesellschaft gebracht wird.

Das Kind als «Heilsbringer» ist ein sehr beliebtes Sujet: Kinder retten die Ehe der Eltern, bringen die Familie wieder zusammen, oder – wie in der Fantasy-Literatur – retten sogar die ganze Welt!

Bei Heidi kommt hinzu, dass das Buch bereits ein beachtlicher internationaler Erfolg war. Und ist ein Thema einmal etabliert, ist es einfach, auf den Zug aufzuspringen.

swissinfo.ch: Sie erwähnen Waisenkinder. Die Liste berühmter Waisenkinder in der Literatur ist ellenlang: Peter Parker (Spiderman), Tom Sawyer, Frodo Beutlin, Pippi Langstrumpf, Oliver Twist, Harry Potter und zahlreiche Märchenfiguren wie Aschenputtel. Warum lieben Schriftsteller die Waisenkinder derart?

I.T.: Waisenkinder bieten ihnen offensichtliche Vorteile: Sie sind in keine Familie integriert und haben dadurch viel mehr Freiheit, die sie für sich verteidigen müssen. Somit sind sie ständig in einer Übergangs-Situation, müssen immer weitergehen.

Damit ist für sie alles offen, sie müssen neue Allianzen schmieden und sich durch Leben schlagen. Auf ihrer Suche nach einem Daheim müssen sie sich angesichts zahlreicher Rückschläge wieder und wieder beweisen.

(Übertragen aus dem Englischen: Christian Raaflaub)

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