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«Höhere Geburtstage sind Abzählverse»

RDB

Mit seinen Romanen bringt Paul Nizon sein Innenleben kompromisslos an die Öffentlichkeit. Der ausgewanderte Berner und Wahl-Pariser wird 75.

swissinfo hat den bedeutenden Schweizer Schriftsteller in Zürich getroffen.

Traditionslokal «Kronenhalle»: Paul Nizon zeigt auf ein Bild an der Wand. «Das ist Hulda Zumsteg, die Wirtin, porträtiert von Varlin. Hier sass ich oft mit Elias Canetti.»

Nizon, der promovierte Kunsthistoriker, hatte 1961 die Leitung der Kunstkritik-Redaktion der «Neuen Zürcher Zeitung» übernommen. «Ich war damals verheiratet, hatte zwei Kinder und wollte eigentlich als Korrespondent in Rom arbeiten, was aber nicht möglich war.»

Nach neun Monaten hängt Paul Nizon seinen lukrativen Job bei der NZZ an den Nagel. «Natürlich hatte ich Existenzängste, aber das Leben als Angestellter bei der bürgerlichen Zeitung hat sich mit meinen Intentionen des Romanschreibens nicht koordinieren lassen. Das war für mich Doppelmoral und hätte zu einer inneren Zensur geführt.»

Sündenfall «Canto»

1963 erschien der Roman «Canto», eine sinnliche, sinnsuchende Hymne an die Stadt Rom. Sein Erstling «Die gleitenden Plätze» war 1959 auf Begeisterung gestossen. Auf «Canto» waren die Reaktionen durchschlagend negativ.

«Ich glaube, dass ich «Canto», ein relativ wildes Buch mit anstössigen Passagen, als Zeitungs-Angestellter nicht hätte schreiben können», stellt Nizon fest. «Dieser Roman wurde damals wahnsinnig angefeindet, heute ist er ein Kultbuch.»

«Canto» verkaufte sich nur 1500 Mal. «Ich hatte ich kein Geld mehr und arbeitete als freiberuflicher Kunstkritiker für die ‹Weltwoche›, die ‹Zürcher Woche› und Radio DRS. Fürs Schriftstellern habe ich mich jeweils ein paar Monate nach London abgesetzt. Erst ab 1972 konnte ich mich mit meinen Büchern finanziell durchbringen.»

Paris – mitten ins Schreiben und Leben

Sein «Diskurs in der Enge» war ein Verkaufserfolg. 1970 erschienen, belebte der Essay mit seinem Titel während Jahrzehnten jede zweite Diskussion über das Verhältnis der Schweiz zur Kultur und ihren Kulturschaffenden.

1975 erschien der Roman «Stolz», Nizons Verarbeitung seiner Zeit im Spessart, wo er in den 50er-Jahren seine Dissertation über Vincent van Gogh geschrieben hatte.

«‹Stolz› ist ein Buch über einen Lebensverneiner, der mit 25 stirbt. Als es erschien, fiel ich in eine schwere Lebenskrise, wie die meisten Männer in diesem Alter.»

1977 zieht Nizon definitiv aus der Schweiz, weg nach Paris. «Ich konnte damals schon gratis in der kleinen Wohnung meiner verstorbenen Tante wohnen und mir einen Traum erfüllen. Paris war für mich eine Künstlerstadt, eine Literaturstadt. In Paris habe ich meine poetische Existenz gefunden.»

Vom Kopf direkt in die Maschine

Vor wenigen Wochen ist der zweite Band von Nizons Tagebüchern erschienen. «Das Drehbuch der Liebe» umfasst die Jahre 1973 bis 1979.

«Meine Tagebücher habe ich ohne Absicht auf Publikation geschrieben. Wie ein Pianist, der jeden Tag einige Stunden übt, habe ich das Bedürfnis gehabt, zu verbalisieren, was mir durch den Kopf ging.»

Wie in seinen Romanen spiegelt Paul Nizon hier schonungslos seine Krisen, seinen Hunger nach Leben und sein ausschweifendes Intimleben.

«Mich selber habe ich in dieser Hinsicht wie ein Versuchs-Kaninchen betrachtet. Hemmungen hatte ich nur im Bezug auf das Verletzen von Leuten, die vorkommen. So habe ich den betroffenen Frauen das Manuskript gezeigt und sie gefragt, ob sie mit der Publikation einverstanden seien. Sonst habe ich die Stellen rausgenommen.»

Zurück zu den Wurzeln

Paul Nizon hat vier Kinder und war dreimal verheiratet. «Seit einem Jahr bin ich wieder allein stehend. Ja, ich bin ein schwieriger, vermutlich wahnsinnig egoistischer Partner. Ich bin nicht ein Mann, der mit der Familie Ferien verbringen kann. Das habe ich mehrmals versucht. Ich habe einmal am Radio einen gehört, der sagte ‹Ferien mache ich nicht, das ist zu stressig›. Und das ist für mich genau das Gleiche.»

Paul Nizons Werke wurden grösstenteils in die französische Sprache übersetzt. Er ist im französischen Sprachraum mindestens so bekannt, wie im Deutschen. Fünf seiner Bücher sind auf Russisch erschienen.

«Ich komme soeben aus Russland zurück. Dort haben meine Bücher die grösste Verbreitung neben Frankreich. Diese Russlandreise war ein Glücksfall. Ich wollte schon lange dorthin, da mein Vater von dort gekommen ist und kann mir vorstellen, dass ich einen längeren Aufenthalt in Russland haben werde.»

«Das Fell der Forelle»

Das «Centre Culturel Suisse» in Paris organisiert im Februar die offizielle Feier zum 75. Geburtstag von Paul Nizon. «Das ist eine Gelegenheit für Leute, die sich nahe stehen, sich wieder mal zu treffen. Aber an sich finde ich es nicht sehr interessant, die höheren Geburtstage zu feiern. Von 60 an wiederholt sich das wie ein Abzählvers, das ist eigentlich nicht sehr belustigend.»

Der Schriftsteller arbeitet seit mehreren Jahren an seinem nächsten Roman. «Das Fell der Forelle» wird im kommenden Herbst erscheinen. «Ich bin arbeitsmässig nicht im Ruhestand. Das Schreiben hält mich insofern in Atem, dass ich weder an mein Alter, noch an meine Lebensumstände erinnert werde.»

swissinfo, Andreas Keiser, Zürich

Paul Nizon wurde am 19. Dezember 1929 in Bern geboren und ist dort aufgewachsen.

Sein Vater, ein Chemiker, Forscher und Erfinder, aus Riga war in die Schweiz emigriert. Seine Mutter war Bernerin.

Paul Nizon lebt seit 1977 in Paris.

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