«Ich bin nicht sicher, ob sich wirklich so viel geändert hat»
Vor fünfzig Jahren starb Paul Grüninger. Der Polizeikommandant bewahrte vor dem Zweiten Weltkrieg tausende Flüchtlinge vor der Rückweisung nach Deutschland – wofür er bestraft und entlassen wurde. Erst 1995 wurde er gänzlich rehabilitiert, auch dank des Buches "Grüningers Fall". Dessen Autor, den Historiker Stefan Keller, haben wir zum Gespräch getroffen, um über Vergangenheitsbewältigung in der Schweiz zu sprechen.
In den 1990er-Jahren wurde die Diskussion um den Fluchthelfer Paul Grüninger zum Katalysator einer Schweizer Vergangenheitsdebatte, die mit dem Konflikt um nachrichtenlose Vermögen auf Schweizer Banken und der Einsetzung der Unabhängigen Expertenkommission Schweiz-Zweiter Weltkrieg – der «Bergier-Kommission» – fortgesetzt wurde und heute in der Diskussion um die Vergangenheit der Bührle-Sammlung im Kunsthaus Zürich wieder Aktualität erhält.
Ein Gespräch mit dem Historiker und Journalisten Stefan Keller.
swissinfo.ch: Was hat sich im Umgang mit der Vergangenheit in der Schweiz geändert in den letzten 30 Jahren?
Stefan Keller: Ich bin nicht sicher, ob sich wirklich so viel geändert hat! Bei der Diskussion um die Bührle-Sammlung erlebt man ja wieder die gleichen Geschichten wie seit jeher: Es wird abgestritten, verharmlost und auch diffamiert. Man glaubt immer noch: Überall herrschte im Zweiten Weltkrieg Chaos, aber bei uns herrschte Recht und Ordnung.
Dennoch passierten in den 1990ern entscheidende Dinge: Paul Grüninger wird 1995 dank Ihres Buches rehabilitiert, 1998 der Hitler-Attentäter Maurice Bavaud – 42 Jahre später als in Deutschland. Da kam ja schon etwas ins Rutschen. Warum?
Mit dem Ende des Kalten Krieg lösten sich die Fronten etwas auf und viele Dinge wurden nochmal neu durchdacht. Das zeigte sich zum Beispiel in den Archiven: Lange Zeit herrschte die Ansicht vor, dass Akten vor allem da sind, damit der Staat sich schützen kann. Archivar:innen informierten die Behörden, wenn ein Historiker oder eine Journalistin etwas Heikles sehen wollten.
Die Genfer Staatsarchivarin wollte mir noch 1997 vom Dossier eines 1938 an die Gestapo ausgelieferten Flüchtlings nur eine Zusammenfassung geben. Ich besass alle nötigen Legitimationen des überlebenden Flüchtings, dass ich seine Akten sehen durfte. Die Staatsarchivarin verweigerte jedoch die Einsicht, sie sagte, der Mann stelle sonst am Ende noch eine Wiedergutmachungsforderung! Erst als ich einen Genfer Rechtsanwalt bat, zu intervenieren, bekam ich die Aktenkopien zugeschickt.
Diese Staatsarchivarin gehörte noch zur alten Generation. Es gab längst eine neue Generation von Archivar:innen, die der Aufklärung verpflichtet waren und mir sehr viel halfen. Sie kannten die Aktenbestände, sie wollten, dass man sie brauchte.
Der St. Galler Polizeikommandant Paul Grüniger hatte in den Jahren 1938 und 1939 mehrere hundert, vielleicht einige tausend jüdische und andere Flüchtlinge gerettet, die nach Schweizer Gesetz zurück nach Deutschland geschickt worden wären. Im Frühjahr 1939 wurde Grüninger fristlos entlassen. Ende 1940, nach einem langen Untersuchungsverfahren, verurteilte ihn das Bezirksgericht St. Gallen zu einer Geldstrafe. Er fand nie mehr eine feste Anstellung und starb 1972 als armer, vielerorts auch verfemter Mann.
In seinen letzten Lebensjahren wurde Paul Grüninger für seine Taten vereinzelt geehrt, etwa von der israelischen Erinnerungsstätte Yad Vashem. Aber erst 1995 hat das Bezirksgericht St. Gallen das Urteil von 1940 widerrufen und Grüninger freigesprochen. Grundlage dieser Rehabilitation war das Buch «Grüningers Fall» von Stefan Keller, ein darauf basierendes Gutachten des Rechtsprofessors Mark Pieth, der anwaltliche Einsatz des St. Galler Politikers Paul Rechsteiner und die Arbeit des Vereins «Gerechtigkeit für Paul Grüninger».
Der Fall Grüninger war die erste derartige Rehabilitation in der Schweiz. Später gab es ein Gesetz, das alle bestraften Fluchthelferinnen und Fluchthelfer der nationalsozialistischen Zeit rehabilitierte, dann gab es ein Gesetz, das auch die verurteilten Spanienkämpfer rehabilitierte. Es gab – zumindest symbolische – Wiedergutmachungen für jenische Verfolgte und für Opfer des Verdingkinderwesens.
Hier finden Sie den Dokumentarfilm «Grüningers Fall»Externer Link von Richard Dindo (1997).
Warum dauerte das so lange?
Der Mythos, dass die Schweiz im Zweiten Weltkrieg aus eigener Kraft und ehrenvoll überlebt habe und eigentlich zu den Siegern gehörte, war zwar immer fragil, und man wusste seit jeher, dass er nicht recht stimmte. Aber er wurde zäh verteidigt, denn die Idee der «Geistigen Landesverteidigung» – über alle Klassen hinweg – hatte auch die gesellschaftlichen Auseinandersetzungen der Nachkriegszeit stabilisiert. Noch 1989, zum Jubiläum des Kriegsausbruchs von 1939, veranstaltete die Schweizer Armee ein grosses Fest mit dem Titel «Diamant» – als gäbe es an diesem Krieg etwas zu feiern.
Auch die Ermordung der europäischen Jüdinnen und Juden war lange kein grosses Thema – nicht nur in der Schweiz, sondern international. Das grundlegende Buch des amerikanischen Historikers Raul Hilberg «Die Vernichtung der europäischen Juden» von 1954 blieb zunächst ein Flop.
Der Begriff «Holocaust» wurde in Deutschland erst durch die gleichnamige amerikanische Fernsehserie in den 1980ern geläufig. Das hebräische Wort «Shoah» als Synonym für die Ausrottung der Jüdinnen und Juden hat in Europa der französische Filmemacher Claude Lanzmann eingeführt, 1984/85 mit einem Film unter diesem Titel. Der Zivilisationsbruch, das zentrale Ereignis, das die systematische Ausrottung der Jüdinnen und Juden in der Menschheitsgeschichte darstellt, ist relativ spät so wahrgenommen worden.
In der Schweiz wurde das Unrecht, das die Zurückweisung vieler tausend Menschen in den Tod bedeutete, zwar immer wieder angesprochen – auch das Unrecht der Geschäfte mit den Nazis war ein Thema, aber in den Mainstream drang es lange Zeit nicht ein.
Wann begann das?
1957 erschien ein Bericht des Juristen Carl Ludwig über die Flüchtlingspolitik, im Auftrag des Bundesrats, der recht unerbittlich war und heute noch als Referenz dienen kann. Darauf aufbauend veröffentlichte Alfred A. Häsler zehn Jahre später das legendäre Buch «Das Boot ist voll». Häsler arbeitete mit den Archiven der Jüdischen Flüchtlingshilfe und recherchierte viele Einzelschicksale.
1973 zeigte das Schweizer Fernsehen den Mehrteiler «Die Schweiz im Krieg» von Werner Rings. Das war ein Strassenfeger, bemerkenswert auch, weil Rings selber als Flüchtling in die Schweiz gekommen war. Danach gab es etliche Dokumentarfilme und Zeitungsserien, Journalist:innen und Filmemacher:innen waren sehr wichtig für die Aufarbeitung der Schweizer Verstrickungen im Nationalsozialismus.
Welche Vorteile hat der Journalismus für diese Art der Aufarbeitung?
Polemisch gesagt: Die akademische Forschung, die Unis, haben das Thema lange verschlafen. Wir Journalist:innen lernten daher, nicht auf die Wissenschaft zu warten. Als Journalist:in arbeitest du schnell, unkonventionell, und du hast keine Scheu vor mündlichen Quellen. Du weisst auch, wie man Geschichten personalisiert, so dass die Leute sie verstehen: Zahlen bleiben oft abstrakt. Waren es jetzt 25’000 oder 30’000 Menschen, die zurückgeschickt wurden? Man kann sich diese Zahl ohnehin nicht vorstellen! Wenn du aber genau weisst, was zwei, drei oder vier Leuten passiert ist – mit Namen und Adressen und aus ihrer eigenen Sicht –, dann hast du auch eine Vorstellung vom ganzen.
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Sie haben dem Fluchthelfer Paul Grüninger damals nicht nur ein Buch gewidmet – sondern ihn zusammen mit Juristen noch einmal vor ein Gericht gestellt, in einem neu aufgerollten Prozess, in dem er für unschuldig befunden worden ist. Warum? Macht die Rehabilitation eines Toten überhaupt Sinn?
Es geschah für die Familie, für die Flüchtlinge, die ihm ihr Leben verdankten – und es war natürlich auch Symbolpolitik. Ich finde es wichtig, gute Symbole zu setzen. Vergangenheitsbewältigung ist nicht damit erledigt, dass man sich erinnert und ein paar schöne Worte spricht.
Es braucht weitere Schritte: die Rehabilitation, die Restitutionen, die Reparationen erst zeigen, dass man eine Vergangenheit als falsch oder als verbrecherisch anerkennt, dass man mit dieser Vergangenheit bricht. Als wir für die Rehabilitation des Fluchthelfers Paul Grüninger kämpften, hielt man uns in St. Gallen zuerst entgegen, der Begriff der Rehabilitation sei dem St. Gallischen Recht fremd.
Der Jurist Stefan Schürer meint, der Fall Grüninger sei ein Lehrstück gewesen «für die Vermengung von Recht und Geschichte» – damals sei zum ersten Mal die Geschichte über das Recht gestellt worden.
Wir haben nicht die Geschichte über das Recht gestellt. Aber wir haben mit Naturrecht argumentiert. Denn es konnte zu keiner Zeit rechtens gewesen sein, Leute in den Tod zu schicken. Die juristische Argumentation wurde von Paul Rechsteiner als Anwalt der Nachkommen Grüningers und von Mark Pieth als Rechtsprofessor ausgearbeitet. Pieth hat in seinem Gutachten sogar festgehalten, dass eigentlich jene bestraft werden müssten, die den Befehlen des Bundesrates damals Folge leisteten beziehungsweise jene, die sie erliessen. Der Befehl, Menschen ihren Mördern auszuliefern, ist zu jeder Zeit gesetzwidrig. Man muss sich ihm verweigern.
Wie reagierte man darauf?
Es war natürlich eine brisante Botschaft, denn sie gilt auch in der Gegenwart und in der Zukunft. Gesetze oder Verordnungen dürfen den grundlegenden Menschenrechten nicht widersprechen. Wir haben damals geglaubt, dass wir mit der Rehabilitation von Paul Grüninger ein neues Kapitel der Schweizer Vergangenheitspolitik eröffnen. Aber kaum hatten wir den Prozess gewonnen, kam die Debatte um die nachrichtenlosen Konten in der Schweiz und man sah wieder dieselbe Abwehrhaltung: Die Banken, so der Vorwurf, hatten Geld von ermordeten Juden einbehalten und wollten es nicht herausgeben.
Jeden Ladendieb jagt man, aber hier, wo es um Besitz von Jüdinnen und Juden ging, setzte man sich über die Eigentumsfrage hinweg. Ich habe die Abwehr gegen die jüdischen Forderungen damals als antisemitisch verstanden. Auch bei der aktuellen Debatte um die Sammlung Bührle im Zürcher Kunsthaus: Bilder aus jüdischem Vorbesitz, die mit Geld aus Nazigeschäften erstanden wurden! Da hätten doch bei jedem biederen Bürger alle Alarmglocken klingeln müssen. Aber in der Schweiz hält man sich für unschuldig und baut dem Waffenhändler ein eigenes Museum.
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Die Schweiz tat sich lange schwer mit der Erinnerungskultur
Die Debatte um die nachrichtenlosen Konten hat damals auch die Einsetzung der «Unabhängigen Experten-Kommission Schweiz – Zweiter Weltkrieg» befördert?
Die Debatte führte schliesslich zur Einsetzung der UEK oder Bergier-Kommission, das ist richtig. Auch die Bührle-Debatte führt zu neuen wissenschaftlichen Anstrengungen. Die Arbeit der Bergier-Kommission ist bis heute sehr wichtig: Der Inhalt ihres 13-bändigen Berichts kann schlichtweg nicht mehr übergangen werden. Mit dem 1999 publizierten Flüchtlingsbericht beschritt sie methodisch Neuland: Zum ersten Mal wurde die Flüchtlingspolitik als Ganzes aus Sicht der Betroffenen selbst, der Flüchtlinge dargestellt.
Im Zusammenhang mit dieser Debatte konnten auch weitere Rehabilitationen erreicht werden: Etwa jene des Neuenburgers Maurice Bavaud, der 1938 versuchte, Hitler zu töten und dafür von den Nazis guillotiniert wurde; der Bundespräsident zollte ihm nun endlich Anerkennung. Die Rehabilitierung aller Fluchthelfer:innen, die für ihre Taten bestraft worden waren, dafür gab es eine eigene Rehabilitationskommission. Schliesslich die kollektive Rehabilitierung der Spanien-Freiwilligen, die in Spanien gegen den Faschismus gekämpft hatten. Die Rehabilitation der bestraften Kämpfer in der französischen und italienischen Resistance steht noch aus.
Jetzt ist sogar ein Mahnmal in Planung, die politische Unterstützung ist sehr breit, Kritik daran ist keine mehr erkennbar. Kann Vergangenheitsbewältigung auch im Kitsch enden?
Das ist eine gute Frage. Den ersten Entwurf für das Mahnmal fand ich haarsträubend – ein Denkmal für die Schweizer Opfer des Nationalsozialismus. Also ob die Nationalität der Opfer das zentrale Kriterium wäre: Viel mehr Ausländer:innen wurden umgebracht, weil die Schweiz sie nicht aufnahm oder den Nazis preisgab. Inzwischen ist die Definition des Mahnmals zum Glück erweitert worden.
Auch mit der Initiative der Stolpersteine in der Schweiz habe ich etwas Mühe. In Deutschland wurden Stolpersteine meines Wissens eingeführt, um die Wohnhäuser zu kennzeichnen, aus denen Leute deportiert worden waren. In der Schweiz gibt es solche Häuser nicht, allenfalls ein paar Flüchtlingsbaracken oder Herbergen. Die Schweiz müsste fast alle ihre Stolpersteine an die Grenze setzen, vielleicht eine Mauer errichten damit, 30’000 Gedenksteine auf einem Haufen: Das gäbe schon etwas Rechtes.
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