Holocaust-Überlebender: «Wenn man Angst hat, wird man erkannt»
Getarnt als polnischer Knecht hat Bronislaw Erlich das Naziregime überlebt – auf einem deutschen Hof. In seinem Pass steht bis heute das falsche Geburtsdatum.
Bronislaw Erlich hat die Pelzmütze mit den grossen Ohrenklappen schon lange nicht mehr getragen. Nun aber soll er im Freien auf einer Bank im Garten eines Stadtberner Altersheims fotografiert werden, und es ist November.
Er betrachtet die Mütze von allen Seiten, stülpt sie probeweise über den Kopf, zieht sie ab, setzt sie erneut auf, lacht: «Jetzt sehe ich aus wie ein Russe.»
In seiner Biografie geht es um wahre und falsche Identität, um die Rolle, die er spielen musste, um zu überleben.
Während des Krieges, sagt Bronislaw Erlich, habe er die Täter gehasst «wie die Pest. Aber als die ersten amerikanischen Panzer in unser Dorf einrollten, da ist mir der ganze Hass irgendwie abhandengekommen».
Das Einzige, was er fühlte, als er befreit wurde, war eine unbändige Freude: «Ich lebe!» Kurz darauf sammelte er weggeworfene Lebensmittel der Amerikaner ein und verteilte sie an deutsche Frauen, die im Dreck nach Essensresten wühlten.
Sein Erinnerungsstrang führt weit zurück, in die Küche seiner Eltern, des Schneidermeisters Nachum Erlich und dessen Frau Brandel, Nalewki-Strasse 34, Warschau. In der Vierzimmerwohnung herrschte ständig Betrieb, vier Kinder gehörten zur Familie.
Bronislaw Erlich, 1923 geboren, war der Drittälteste. In das Gewusel mischte sich die Kundschaft, die zum Anprobieren in die Küche kam, wo auch zwei Nähmaschinen standen.
Mit dem Einmarsch der deutschen Wehrmacht in Polen am 1. September 1939 fand seine Kindheit ein abruptes Ende. In der polnischen Hauptstadt leerten sich die Strassen, Lebensmittelgeschäfte gingen zu, vor den Bäckereien bildeten sich lange Schlangen, bei Fliegeralarm heulten die Sirenen.
Bronislaw Erlich musste die Lehre, die er 1937 in einem grafischen Betrieb begonnen hatte, abbrechen. Im Haus gegenüber schlug eine Bombe ein. Ende September gab es kein Wasser mehr, keinen Strom, kein Gas.
Ein letzter Brief
Als Erster ging Mosche, der ältere Bruder, nach Osten, in den sowjetisch besetzten Teil von Polen. In der Nacht hörte Bronislaw die Mutter weinen. Am 2. Dezember 1939 flüchteten auch Bronislaw, 16, und seine Schwester Bracha. Ein Nachbar brachte sie mit seinem Fuhrwerk zum Bahnhof Warschau Ost.
Sie sassen schon im Zug, als plötzlich dieses Gebrüll ertönte. Ein deutscher Soldat riss das Maul weit auf: «Juden raus!» Bracha und Bronislaw blieben reglos sitzen, bis der Zug abfuhr. Auf dem Bahnsteig setzte sich auch die Mutter in Bewegung, rannte, «wurde langsamer», verschwand ganz.
Nachts, in seinem Zimmer im Altersheim, liegt Bronislaw Erlich heute oft wach. Er sieht die Mutter vor sich, die nicht winkte, weil sie die Aufmerksamkeit der Gestapo nicht auf ihre Kinder lenken wollte. Es war das letzte Mal, dass er sie sah.
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Er und seine Schwester kamen in die Stadt Waukawysk, die heute in Belarus liegt, blieben dort, bis Bracha im Frühjahr 1940 nach Sibirien deportiert wurde, in ein Zwangsarbeitslager für Frauen.
«Für mich ist eine Welt zusammengebrochen. Sie war alles für mich. Mutter und Tante und Schwester, der einzige Halt in der Fremde.» Und die einzige, die wusste, wer er wirklich war, vor der er sich nicht verstecken musste.
Beim Sprechen über Waukawysk kommt noch eine schmerzhafte Erinnerung auf: Bronislaw hatte Lebensmittel gesammelt – acht Kilogramm Teigwaren, Getreide, ausgelassene Butter – und das Paket ins Warschauer Ghetto geschickt.
Die Eltern schrieben zurück, wie sehr sie sich freuten, und schickten später nochmals einen Brief, mit einem Foto: Es zeigte seinen jüngeren Bruder Jakob, die Mutter, den Vater, drei Gestalten mit ausgemergelten Gesichtern.
Bronislaw rannte mit dem Bild in der Hand aufs Feld, warf sich auf den Boden und heulte. Später zerriss er das Foto: «Ich musste alles vernichten, was mich als Jude hätte identifizieren können.» Der Brief mit dem Bild war das letzte Lebenszeichen der Eltern.
Falsche Geburtsurkunde
Am 22. Juni 1941 marschierte die Wehrmacht in die Sowjetunion ein, am 28. Juni stiessen die Truppen nach Waukawysk vor – wieder begann ein Leben unter deutscher Besatzung. Bronislaw arbeitete als Knecht auf dem Hof von Bauer Karol Urbanowicz.
Bis im November 1942 die jüdische Bevölkerung von Waukawysk auf dem Gelände der ehemaligen Kavalleriekaserne zusammengetrieben wurde. «Wie Tiere in ein Erdloch», sagt Bronislaw Erlich, seien Männer, Frauen und Kinder in eine Art Grube gepfercht worden, acht Meter breit, 25 Meter lang, darüber ein Holzdach.
Als ein Soldat auf der anderen Seite des Stacheldrahtes durch den Zaun hindurch nach Freiwilligen schrie für einen Arbeitseinsatz ausserhalb des Lagers, meldete er sich sofort. Er wusste nicht, dass «Arbeit» bedeutete, die Kleider der deportierten Jüdinnen und Juden zu sortieren.
Hier gerät Erlichs Erzählung ins Stocken, bei den Anzügen, Röcken, Hosen, Blusen, Hemden, Schuhen der Jüdinnen und Juden von Waukawysk. Die Männer der Arbeitskolonne sammelten die Kleider in den Wohnungen ein und verluden sie auf Pferdewagen, für die deutsche Winterhilfe.
Bronislaw Erlich schweigt, sagt: «Ein Mensch in Todesgefahr ist kein Held, er macht einfach alles, um zu überleben.» Wenn er etwas zu essen fand in den Speisekammern der Deportierten, dann nahm er es mit.
Er zog neue Schuhe an und Hosen, eine warme Jacke aus Schafpelz. Die Männer der Arbeitskolonne wurden abends ins Gefängnis gebracht, die Bewachung tagsüber war weniger streng als im Lager. Der Zufall wollte es, dass Bronislaw eines Nachmittags auf den Schwager von Bauer Karol Urbanowicz stiess, einen Rechtsanwalt, der ihn zu sich nach Hause einlud.
Der Anwalt durchsuchte seine Akten, fand: die Geburtsurkunde einer Frau, Bronislawa Karkos, geboren 1912. Bronislaw, der sich mit Grafik auskannte, wusste, wie man mit einer Rasierklinge ein «a» wegkratzte, ohne dass es auffiel. Wie man aus Bronislawa Bronislaw machte, und «1920» aus «1912» – sein tatsächliches Geburtsjahr 1923 wäre schwieriger gewesen.
Eine falsche Geburtsurkunde, eine neue Identität, Bronislaw beschloss zu fliehen. Kurz bevor der Wachmann kam, um ihn für die Nacht ins Gefängnis zu bringen, versteckte er sich. Als es dunkel war, marschierte er los.
Nach Deutschland
Im Dezember 1942, in der Nähe von Bialystok, nahm ihn ein Bauer als Knecht auf. Drei Monate arbeitete er dort, bis ein polnischer Soldat in das Dorf zurückkehrte, auf Heimaturlaub.
Der Soldat war zwei Jahre in deutscher Kriegsgefangenschaft gewesen und dann in die Landwirtschaft abkommandiert worden, jetzt hatte er genug, wollte nicht mehr zurück nach Deutschland.
Weil man ihn in der Gemeinde gut gebrauchen konnte, wurde an seiner Stelle der hergelaufene Knecht Bronislaw nach Illeben in Thüringen geschickt. Nach Deutschland. Am 1. April 1943 kam er auf dem Hof von Bauer Schönau an.
Die Angst schaut aus den Augen
Im Frühsommer 2019 erzählt Bronislaw Erlich fast drei Stunden lang ohne Unterbrechung. Müde? «Nein.» Überleben war auch ein ungeheurer Kraftakt. Forderte in jedem Augenblick ein Höchstmass an Aufmerksamkeit.
Ein einziges jiddisches Wort in einem deutschen Satz, und alles wäre aufgeflogen: «Manche haben geahnt, wer ich bin.» Angst? Hat er sich nicht zugestanden. «Die Angst schaut aus den Augen. Wenn man Angst hat, wird man erkannt.»
Aber es gibt Bilder, die geblieben sind, Szenen, die sich eingeprägt haben. Als ihm beim Essen eine Kartoffel auf den Boden fällt, beobachtet ihn die Bäuerin mit Argusaugen.
Er bückt sich, wischt die Kartoffel ab, legt sie auf den Teller zurück. Die Frau triumphiert: «Wenn du ein Jude wärst, hättest du das nicht getan!» Ein Jude würde die Kartoffel nämlich nicht mehr essen, erklärt die Bäuerin.
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Bis heute treibt ihn die Frage nach dem Schicksal seiner Familie um, nachts, wenn er wach liegt im Altersheim. Seine Schwester überlebte in Sibirien, er sah sie 1946 wieder.
Doch was haben die Eltern erlebt, und Jakob, der kleine Bruder? Wann sind sie umgekommen, und wie? Fragen ohne Antworten, die nichts an Dringlichkeit verloren haben.
In seinem Pass steht noch immer das falsche Geburtsdatum. Den Namen hatte er ändern lassen, warum das Datum vergessen wurde, weiss er nicht so genau, wahrscheinlich, «weil es damals andere Probleme gab».
Einmal an einem 14. Juli kam der Gemeindepräsident seiner früheren Wohngemeinde Belp mit einem Blumenstrauss und gratulierte zum runden Geburtstag – am falschen Tag und drei Jahre zu früh. «Wir lachten und tranken zusammen Wodka.»
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