Schweizer Perspektiven in 10 Sprachen

Holz-Treibstoff: Die Idee von Kriegsgewinnlern floppte

Arbeiter vor der HOVAG-AG
Aus Wäldern sollte Zucker werden, so das Ziel. Arbeiter vor der HOVAG-AG. Eth-Bibliothek Zürich

Indem sie Holz in Treibstoff verwandelte, bastelte die Holzverzuckerungs-AG im Zweiten Weltkrieg am Traum schweizerischer Eigenständigkeit – mit der Hilfe von Experten aus Nazideutschland. 

Da Holz als Brennstoff zunehmend von Gas und Elektrizität verdrängt wurde, wollte der Schweizer Agronom Werner Oswald für die Bergbauern neue Absatzmöglichkeit schaffen und gleichzeitig die «Durchforstung unserer Hochgebirgswaldungen» fördern. Zu diesem Zweck erwarb er vom deutschen Ingenieur Heinrich Scholler die Lizenz eines Verfahrens, das mittels Salzsäure den Holzbestandteil Lignin in Glucose umwandelt. Im Mai 1936 gründete er eine Firma, um aus Holzabfall Alkohol zu produzieren: Die Holzverzuckerungs AG, kurz HOVAG. 

Men on foto
Werner Oswald, 1904-1979, Gründer der Holzverzuckerungs-AG Privatarchiv

Es war der Anfang einer Erfolgsgeschichte: Aus der HOVAG entstand die Ems-Chemie, die heute an 25 Produktionsstandorten in 16 Ländern Hochleistungspolymere und Spezialchemikalien herstellt, rund 2500 Leute beschäftigt und einen Nettoumsatz von über zwei Milliarden Franken ausweist. Heute wird das Unternehmen von Magdalena Martullo-Blocher geleitet, der Tochter von Alt-Bundesrat Christoph Blocher, der es 1983 der Familie des verstorbenen Firmengründers abgekauft hat. 

Maschinen und Spezialisten aus Nazi-Deutschland

Werner Oswald setzte von Anfang an auf Subventionen, denn der aus Holz gewonnene Alkohol war viel teurer als Importware. Als erstes gelang es ihm, die Regierung des industriearmen, aber waldreichen Kantons Graubünden für sein Vorhaben zu begeistern. 1937 klopften die Bündner erstmals bei der Landesregierung in Bern an und versprachen, allfällige staatliche Zuschüsse um die Hälfte aufzustocken. Doch der Bundesrat liess sich Zeit. Als er endlich von der Realisierbarkeit überzeugt war, brach der Zweiten Weltkriegs aus.

Für Oswald war der Krieg eine Chance. Benzin war Mangelware und streng rationiert. Also unterbreitete er dem Bund Pläne, um aus Alkohol und Methanol Ersatztreibstoff zu produzieren. Der Bau einer solchen Fabrik kostete zwar sechsmal mehr als ursprünglich geplant, doch Oswald versicherte, diese sei innert Jahresfrist produktionsbereit.

Er war ein begnadeter Verkäufer: Mit patriotischem Pathos beschwor er die «Vegetationskraft unseres Bodens» und die Schaffung von Arbeitsplätzen, um die «Bodenständigkeit» der bäuerlichen Bevölkerung zu bewahren. Politiker und Automobilverbände sorgten für Rückenwind und drängten den Bundesrat, die Produktion von Ersatztreibstoff zu unterstützen. Mit Erfolg. Im Frühling 1941 stellten der Bund 2,4 Millionen und der Kanton Graubünden 1,2 Millionen Franken zur Verfügung.  

Aufbau des Gebäudes
HOVAG-Fabrik im Bau, Frühjahr 1942. Schweizerisches Bundesarchiv

Am 2. August 1941 erfolgte der erste Spatenstich. «Eile tut Not», mahnte die Neue Zürcher Zeitung. «Möge ein guter Stern über der Holzverzuckerungsfabrik in Ems walten!» Es war der Auftakt zu einem mehrjährigen Hindernislauf. Wegen der kriegsbedingten Rationierung fehlte es an Baumaterialien, Mitarbeiter mussten Militärdienst leisten, und weil der Schweizer Industrie das Know-how fehlte, mussten die meisten Maschinen in Nazi-Deutschland bestellt werden.

Im Herbst 1942 lief die Alkoholproduktion, doch die deutschen Spezialisten brachten die Methanol-Anlage nicht zum Laufen. Ende Jahr hatte die HOVAG statt der vertraglich vereinbarten 5000 Tonnen Treibstoff mickrige 178 Tonnen geliefert, und der Bund musste ihr sechs Millionen Franken vorschiessen, um die fehlenden Einnahmen zu kompensieren. Als sie 1943 ebenfalls nur die Hälfte der vorgesehenen Menge liefern konnte, verlangte der Bundesrat imperativ ein Ende «der beängstigenden Unsicherheiten, der Hoffnungen und Versprechungen, die stets aufs neue enttäuscht wurden».

Im August 1944, drei Jahre nach dem ersten Spatenstich, kam die Produktion des «Emser Wassers», wie der Ersatztreibstoff im Volksmund hiess, endlich zum Laufen. Trotz der empfindlichen Verzögerung strotzte Oswalds Bericht vor Eigenlob im grammatikalischen Passiv: «Die vielerlei Erschwernisse mussten aus eigener Kraft überwunden werden, indem entschlossen die Verantwortung übernommen wurde.» Der Zusammenbruch Deutschlands war zu diesem Zeitpunkt bereits absehbar. Für die HOVAG hatte er verheerende Folgen. Anfang 1945 fehlten für die Methanol-Produktion mehr als 3000 Tonnen deutsche Kohle.

swissinfo.ch publiziert eine dreiteilige Serie der Historikerin Regula Bochsler über die Vorgeschichte der Ems-Chemie, die der Unternehmer Christoph Blocher 1983 vom 1979 verstorbenen HOVAG-Gründer Werner Oswald übernahm. Später wurde Blocher zum Chefstrategen der Schweizerischen Volkspartei (SVP), die er auf rechtskonservativen Kurs trimmte und zur stärksten Partei der Schweiz machte, was sie bis heute ist.

Für die Recherche verwehrte seine Tochter Magdalena Martullo-Blocher, die heutige Chefin der Ems-Chemie, Bochsler den Zutritt zum Firmenarchiv.

Die HOVAG mit Sitz in Domat/Ems im Kanton Graubünden war erst beim Versuch gescheitert, aus Holz einen Benzinersatz zu entwickeln.

In den 1950-Jahren dann entwickelte sie klandestin die Napalm-Version «Opalm», eine chemische Feuerbombe mit verheerender Wirkung. Um das Exportverbot des Bundes zu umgehen, verlagerte Oswald die Produktion nach Deutschland.

Opalm wurde erfolgreich an zahlreiche Länder und Organisationen verkauft, die in kriegerische Konflikte verwickelt waren.

Hier sind die anderen Teile der Serie:

Nylon, Nazis und BetriebsspionageExterner Link

Napalm aus den Alpen

Im Jahresbericht 1944, der kurz nach Kriegsende erschien, stand zu lesen, es sei der HOVAG gelungen, «der Landesversorgung in der Zeit ihrer bisher grössten Einengung mit der vollen Produktion zur Verfügung zu stehen und unserem Land einen wesentlichen Dienst zu leisten.» Diese Sicht der Dinge verbreitete 2011 auch die offizielle, von der Familie Blocher autorisierte und bezahlte Firmengeschichte der Ems-Chemie.

Bei näherer Betrachtung ist das Fazit weniger rosig: Abgesehen von der fatalen Verzögerung, kostete der Bau der Fabrik 37 Millionen anstatt der geplanten 15 Millionen Franken. Das Loch in der Kasse wurde dank der Erhöhung des Treibstoffpreises gefüllt. Auch Oswalds patriotischer Überbau stand auf tönernen Füssen: Die Verwertung von «heimischem» Holz war nur möglich dank jährlichen Lizenzgebühren von 100‘000 Schweizer Franken, die nach Nazi-Deutschland flossen. Und ohne Spezialisten, Maschinen, Werkstoffen und Kohle aus Nazi-Deutschland sowie Pyrit aus Franco-Spanien hätte es kein «Emser Wasser» gegeben.

Sogar das Verkaufsargument, die HOVAG unterstütze die Bündner Bergbäuerinnen und Bergbauern, entpuppte sich als Augenwischerei. Im Krieg war Holz als Energiequelle gefragt wie lange nicht mehr, sodass das Holz schweizweit für teures Geld beschafft werden musste. 

Nach dem Krieg

Das Ende der Benzinrationierung im März 1946 brachte das Aus für Oswalds Geschäftsmodell. Aber weil der Bund den Treibstoffpreis so hoch angesetzt hatte, war das Werk in Ems amortisiert und die HOVAG schuldenfrei. Mehr noch: Sie hatte eine staatliche Abnahmegarantie und konnte dem Bund bis 1956 die Gesamtmenge von 100‘000 Tonnen Treibstoff liefern. 1949 kostete dieser fast zehn Mal so viel wie Importbenzin, denn ihr wurden nicht nur die Vollkosten der Produktion vergütet, sondern auch Dividendenzahlungen an die Aktionäre und Gelder für die Forschung. 

Caricatures
Die Holzverzuckerungs-AG als quengelndes Kleinkind, das nie satt wird. Karikaturen von 1951 und 1953. Nebelspalter

Die HOVAG hatte die Auflage, mit diesen Geldern neue Produkte zu entwickeln, damit sie nach dem Ende der Bundeshilfe am Markt bestehen konnte. Oswald setzte auf Dünger, synthetische Fasern und Kunststoff, er wollte aber auch nicht vom Treibstoff lassen. Um neue Absatzmöglichkeiten zu schaffen, bauten ehemalige Spezialisten der Heeresversuchsanstalt Peenemünde in Ems eine Rakete mit Flüssigkeitsantrieb. Sie sollte mit Emser Treibstoff fliegen und der Schweizer Armee verkauft werden. Die HOVAG entwickelte auch ein Napalm-Granulat namens Opalm, das mit Emser Benzin angerührt werden sollte. Doch beides war der Schweizer Regierung zu teuer.

Bereits 1952 war die Gesamtmenge des Treibstoffs beinahe ausgeliefert. Gleichzeitig erklärte Oswald, ohne weitere staatliche Unterstützung müsse er den Grossteil des Betriebs schliessen. Um die Arbeitsplätze zu retten, sprach zuerst der Bundesrat eine zweijährige Übergangshilfe, dann bewilligte das das Schweizer Parlament im Herbst 1955 weitere fünf Jahre Bundeshilfe im Wert von 38 Millionen. Dagegen ergriffen rechtsliberale Kreise erfolgreich das Referendum. 

Nach einem erbitterten Abstimmungskampf fiel am 13. Mai 1956 der Entscheid: Die Stimmbürger lehnten eine weitere Unterstützung der HOVAG ab. «Ein düsterer Tag hat sich heute morgen über die bündnerischen Täler ausgebreitet», jammerte die Bündner Zeitung. «Düster liegt der Morgen auch über vielen Arbeiterfamilien, deren Los gestern mit der Holzverzuckerung vom Schweizervolke ebenfalls entschieden wurde.» Die Presse im Unterland war überzeugt, in Ems klopfe bereits der Ruin ans Fabriktor. Weit gefehlt. Oswald stellte zwar die Holzverzuckerung ein und entliess 150 Arbeiter:innen, machte aber ohne Subventionen weiter. 

In der Folge stieg der Reingewinn Jahr für Jahr. Bereits 1958 konstatierte die National-Zeitung, die Umstellung trage «goldene Früchte» und erklärte die HOVAG zum «Schweizer Wirtschaftswunder». Einzig die Weltwoche mochte sich dem Jubel nicht anschliessen. Sie erinnerte daran, dass die Schweiz «den Herren von Ems» eine «mit unserem Geld gebaute und schön ausgerüstete, finanzkräftige und Dividenden ausschüttende Fabrikanlage, komplett mit Tochterunternehmen», geschenkt hatte. Sie war überzeugt: «Die Hovag hat das ganze Schweizervolk mitsamt der Regierung hereingelegt.»

Regula Bochsler: Nylon und Napalm. Geschichte der Emser Werke und ihres Gründers Werner Oswald. Erschienen bei Hier & Jetzt 2022.Externer Link

Beliebte Artikel

Meistdiskutiert

In Übereinstimmung mit den JTI-Standards

Mehr: JTI-Zertifizierung von SWI swissinfo.ch

Einen Überblick über die laufenden Debatten mit unseren Journalisten finden Sie hier. Machen Sie mit!

Wenn Sie eine Debatte über ein in diesem Artikel angesprochenes Thema beginnen oder sachliche Fehler melden möchten, senden Sie uns bitte eine E-Mail an german@swissinfo.ch

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft

SWI swissinfo.ch - Zweigniederlassung der Schweizerischen Radio- und Fernsehgesellschaft