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«Ich bin mir meiner Sache sicher»

Der Autor Peter Stamm
Peter Stamm in einer ehemaligen Industriehalle seines Wohnorts in Winterthur. Mit sicherem Blick vorbei am Fotografen.

Acht Romane und sechs Erzählbände hat er mittlerweile geschrieben: Peter Stamm webt an einem eigenen Kosmos mit wiederkehrenden Motiven. Stil, sagt er, sei nicht nur Sprache, sondern auch der Inhalt – das "Universum, in dem man sich bewegt".  

Nein, wenn ein neues Buch von ihm erscheine, sei er nicht mehr aufgeregt. «Ich bin mir meiner Sache sicher», sagt Peter Stamm. Zudem sei der interessante Teil der Arbeit dann abgeschlossen.

Wir sitzen in einem Café im Sulzer-Areal gleich hinter dem Bahnhof in seinem Wohnhort Winterthur. In einem der ehemaligen Industriegebäude hatte der heute 58-jährige Autor vor langer Zeit sein Büro, als er nach Auslandaufenthalten in Paris, New York oder Berlin in die Schweiz zurückkam.

Die Schweizer Literaturkritikerin Anne-Sophie Scholl begegnet in der Serie Schweizer Schreibwelten  von swissinfo.ch den wichtigen Schweizer Autorinnen und Autoren der Gegenwart.

Sein jüngstes Buch «Das Archiv der Gefühle» ist sein achter Roman, neben sechs Erzählbänden. Früher hat er auch Theater und Hörspiele geschrieben und ganz zu Beginn war er Journalist. Hauptfigur im neuen Roman «Das Archiv der Gefühle» ist ein Zeitungsarchivar.

Doch als Akten und Archivar in der Redaktion nicht mehr gebraucht werden, zieht sich dieser in sein Haus zurück und zügelt das ganze Archiv zu sich in den Keller. Ungerührt arbeitet er zu Hause weiter.

Das Archiv ist eine Welt mit fixer Struktur, die man nicht verändern darf, höchstens erweitern. Und über diese Welt waltet der Archivar wie ein Gott. Seine kostbarste Akte ist die über Fabienne — seine grosse Jugendliebe, die er noch unter dem Namen Franziska kennengelernt hat. Das war, bevor sie als Schlagersängerin bekannt wurde und Interviews oder Geschichten mit ihr die Illustrierten füllten.

Doch als er ihre Akte durchblättert, merkt er: Er erfährt zwar, wer der jeweils neuste Mann an Fabiennes Seite ist, über sie selbst und ihr Leben erfährt er jedoch so gut wie gar nichts. Nur: Will er das überhaupt? Einmal, als sie beide noch sehr jung waren, hatte er ihr seine Liebe erklärt, und sie hatte ihn zurückgewiesen.

Wenn er sich jetzt daran erinnert, glaubt er, sie habe ihm gesagt: «Ich liebe dich nicht, weil ich dich liebe.» Und als er sie damals geküsst hat, war das für ihn «Glück, das sich wie Unglück anfühlt».

Peter Stamm mit offenen Augen
Thomas Kern/swissinfo.ch

Was ist schöner: die Fantasie oder das reale Leben? Und: Welche Macht haben die Bilder im Kopf über die Realität? Das sind Themen, die Peter Stamm in seinen Texten in unterschiedlichen Formen variiert.

Schon in seinem Debüt «Agnes» von 1989 geht es um eine Frau, die sich von ihrem Schriftstellerfreund einen Text über sich selbst wünscht. Doch dann gewinnt der Text die Oberhand und wird zum Skript für ihr Leben.

In Stamms letztem Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» glaubt der Protagonist seinem jüngeren Ich zu begegnen, das dem Skript seines eigenen Lebens folgt. Und «Weit über das Land» handelt von einem Mann, der eines Abends aufsteht und aus seinem Leben mit Frau und Kindern hinausläuft.

Scheinbar ziellos wandert er Täler hinauf in die romantische Landschaft fast menschenleerer Berge. Er will das Glück des Moments festhalten — so wie der Archivar lieber seinen Erinnerungen nachhängt, sie nach seinen Vorstellungen formt und den Schmerz des realen Lebens flieht.

Ganz anders Franziska oder Fabienne im neuen Roman, die Peter Stamm nach dem Lied der französischen Chansonnière Barbara formt: «Dis quand reviendras-tu?», fragt diese voller Sehnsucht im gleichnamigen Chanson. Doch dann singt sie weiter: «Die Welt bezaubert mich, ich werde mich an einer anderen Sonne wärmen.»

Franziska hat diese Chansons gerne gesungen, für das Publikum waren sie jedoch zu komplex. Also hat sie sich angepasst, genauso wie sie in den neuen Namen geschlüpft ist, der für ihre Karriere als Schlagersängerin erfolgsversprechender war. Franziska lebt realitätsnah, zeigt sich wandelbar und pragmatisch. Über die Männer in ihrem Leben sagt sie: «Ich habe sie alle geliebt, und ich habe es ihnen gesagt. Und irgendwann war es vorbei.»

Peter Stamm mit geschlossenen Augen
Thomas Kern/swissinfo.ch

Und doch ist das Bild, das die Illustrierten von ihr zeichnen, wahrscheinlich genauso falsch wie das Bild, das der Archivar in seinen Erinnerungen zu bewahren versucht.

Auch dieses Thema taucht in Stamms Texten immer wieder auf: «Nacht ist der Tag» handelt von einer Frau, die bei einem Unfall ihr Gesicht verliert. Als Fernsehmoderatorin hatte auch sie in einer Welt der oberflächlich inszenierten Bilder gelebt. Wie viel bleibt von dieser Identität, wenn sich der Körper verändert?

In diesem Roman gibt es die Figur eines Malers. Als Künstler denkt er bewusst über die Bilder nach, die wir uns von anderen machen. Er und die Frau hatten sich vor ihrem Unfall kennengelernt. Sieben Jahre später treffen sie sich wieder.

Und in Stamms neuem Buch «Das Archiv der Gefühle» stellt sich von Beginn weg die Frage, ob der Archivar und die Sängerin noch einmal zusammenfinden. «Kunst ist auch ein ästhetisches Vergnügen», sagt Peter Stamm. Es sei die Bewegung im Text, die im neuen Roman ein Zusammenkommen der beiden Figuren verlange.

Ein Happy End gibt es trotzdem nicht. Nicht nur weil das kitschig wäre. Vielmehr weil der Text sich in der wechselvollen Beziehung von Glück und Unglück, von Nähe und Distanz aufspannt.

Peter Stamm an Wand stehend
Peter Stamm selbst bleibt im Bild eher unfassbar. Thomas Kern/swissinfo.ch

«Stil ist nicht nur Sprache, sondern auch der Inhalt, das Universum, in dem man sich bewegt», sagt Peter Stamm. Themen wie die Erinnerung, der Lauf der Zeit oder das Motiv des Doppelgängers tauchen in seinen Büchern immer wieder auf, aber auch bestimmte Orte wie ein See oder ein Tal. «Ich will zeigen, dass die Bücher miteinander verwandt sind. Sie gehen von derselben Welt aus», sagt er.

Stamms Büchern haftet die Zeitlosigkeit einer der Zeit enthobenen Welt an. Und doch bringen sie auf subtile Art den Zeitgeist zum Ausdruck. Im neuen Buch klingt der Shutdown während der Pandemie an, ohne dass es je ausgesprochen wäre.

Das passt vor allem aus ästhetischen Gründen, weil es den Rückzug des Archivars unterstreicht. «So viel Unbeschriebenes, Unerfasstes, Unerfassbares», heisst es im Buch, als dieser das Leben neu entdeckt. Erfassen kann man das Leben nur auf dem Terrain der Kunst. «Kunst hat eine Art von Lebendigkeit», sagt Stamm, «in der Kunst geht es darum, dem Unfassbaren eine Form zu geben.»

So mag man den Roman, den man in der Hand hält, als Versuch des Archivars sehen, sein Leben in Worte zu fassen. Peter Stamm kann das natürlich. Wie in all seinen Texten entwickelt seine Sprache schon mit dem ersten Satz einen Sog. Die durchrhythmisierten Sätze, der reduzierte Ton, der den Lesern genug Raum lässt, ihre eigenen Bilder hineinzulesen: Das macht die Lebendigkeit seiner Literatur aus.  

Das müssen Sie gelesen haben:

«Sie besucht mich oft, meist kommt sie in der Nacht»: Mit diesem Satz lässt Peter Stamm seinen Roman «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» beginnen. Er, der spricht, ist ein alter Mann, sie ist eine Frau, die ihre Jugend behalten hat. «Komm doch!», ruft sie, «Komm zu mir!» Und damit führt sie in eine tiefere Schicht des Romans: Hinein in eine lange zurückliegende Nacht, in der er, Christoph, sich mit einer Frau verabredet hat, die ihn an seine Jugendliebe Magdalena erinnert.

Christoph erzählt ihr davon, wie er seinem jüngeren Ich begegnet war. Die junge Frau nennt sich Lena, hat einen Freund, den sie Christ nennt, und ihre gemeinsame Geschichte weist eine verblüffende Ähnlichkeit auf mit der von Christoph und Magdalena, die sie gerade erzählt bekommt.

Mit wenigen Sätzen führt Peter Stamm in dem Roman in eine geheimnisvoll schwebende Welt, die an Bilder und Vorstellungen der Romantik im 19. Jahrhundert erinnert. Der Autor schreibt raffiniert ineinander verschachtelte Rückblenden, die realistisch anmuten, sich aber bald im Irrationalen verlieren — wie die ineinander verschränkter Treppen auf den Bildern des Grafikers M. C. Escher, die einen Raum aus zwei Perspektiven erscheinen lassen.

«Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt» wurde 2018 mit dem Schweizer Buchpreis ausgezeichnet. Auch dieser Roman handelt von Erinnerungen und vom Verrinnen der Zeit. Geschrieben ist er in der für Stamm typischen Sprache. Er hat aber eine betörende, nahezu skulpturale Struktur.

Peter Stamm: «Die sanfte Gleichgültigkeit der Welt», S. Fischer, 160 Seiten, 2018.

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