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«Ich finde das Glück meiner Kindheit im Alter wieder»

Ihre Wohnung ist ihr zur Heimat geworden. swissinfo.ch

Agota Kristof war 1956 aus Ungarn in die französische Schweiz geflüchtet, wo sie zur Analphabetin wurde. Kürzlich ist ihr Werk, das sie in der ihr einst fremden Sprache schrieb, mit dem Österreichischen Staatspreis für Europäische Literatur ausgezeichnet worden.

Sorgfältig frisiert, die Haare schwarz getönt, die grosse, runde Brille durch ein schlichteres Exemplar ersetzt, empfängt Agota Kristof die Journalistin in ihrer kleinen Altstadtwohnung in Neuenburg.

Rechts und links neben dem weissen Sofa im Wohnzimmer stehen Büchergestelle mit chinesischen, arabischen, japanischen und ungarischen Werken. Es sind Agota Kristofs eigene Romane, die in 38 Sprachen übersetzt wurden.

Die Wand gegenüber wird von einer grossen Lithographie ihrer ungarischen Heimatstadt Köszeg bedeckt, die sie mit 21 Jahren verlassen hat und in der ihre Triologie «Le grand cahier» (Das grosse Heft), «La preuve» (Der Beweis) und «Le troisième mensonge» (Die dritte Lüge) angesiedelt ist.

Agota Kristof verlässt ihre Wohnung seit Jahren kaum noch. Sie ist ihr zur Heimat geworden.

«Keine Lust mehr zum Schreiben»

«Ich schreibe nicht mehr, ich habe keine Lust mehr dazu», sagt die 73-jährige Schriftstellerin Agota Kristof, die mit ihrer direkten Art immer wieder überrascht.

Obwohl sie in der Vergangenheit verschiedentlich betont hatte, wie wichtig ihr das Schreiben war, scheint ihr das Aufhören damit keine Mühe zu machen. «Moralisch geht es mir gut», so Agota Kristof.

Trotz körperlicher Krankheiten wirkt Agota Kristof aufgeweckt und aufgeräumt, anders als in Eric Bergkrauts zweitem Dokumentarfilm über die Schriftstellerin von 2006.

«Schreiben ist ein wenig selbstmörderisch, es tötet ein bisschen», sagte sie im Film Kette rauchend und Whiskey trinkend. Man durchlebe alle traurigen Geschichten seines Lebens nochmals, das könne schon in die Depression führen. «Man muss sich entscheiden – schreiben oder leben.»

Französisch als «Feindessprache»

Kristof war während der ungarischen Revolution mit der viermonatigen Tochter ihrem Mann über die ungarisch-österreichisch Grenze gefolgt. Die Flucht führte sie schliesslich in die französische Schweiz. Während ihr Mann studierte, musste sie in einer Uhrenfabrik den Lebensunterhalt für die Familie verdienen.

Agota Kristof, die bereits mit 4 Jahren alles las, was ihr vor die Augen kam, wurde in der Romandie wieder zur Analphabetin. Die Eroberung der französischen Sprache werde ein langer, erbitterter Kampf, schreibt sie in der autobiographischen Erzählung «L’analphabète». Sie bezeichnet darin die französische Sprache, in der sie ihre Bücher in schnörkellosen, geschliffenen Sätzen und gnadenlosem Stil geschrieben hat, als «Feindessprache».

Trotzdem habe sie nie daran gedacht, in ihrer Muttersprache zu schreiben, wie sie sagt. «Dann hätte es in der Schweiz ja kaum jemand lesen können», so Kristof.

Hat sie sich inzwischen mit dem Französischen versöhnt? «Nicht wirklich», sagt Kristof. «Ich beherrsche das Französische nicht perfekt. Und es verbindet mich auch keine besondere Liebe zu dieser Sprache.» Sie habe diese Sprache nicht gewählt, weil sie ihr gefalle, sondern sie sei ihr vom Schicksal aufgedrängt worden.

Es scheine ihr jedoch, als würde sie mit dem Alter das Französische immer mehr vergessen, als würde das Ungarische in ihr Gedächtnis vorstossen.

«Canard enchaîné» und «Derrick»

Heute liest Agota Kristof ausser dem «Canard enchaîné» (satirische Wochenzeitung in Frankreich) kaum noch. Sie schaue viel Fernsehen, am liebsten Nachrichten und Krimis, «Derrick», «Siska» und «Der Alte», wie sie sagt. Sie und ihre beiden Brüder hätten als Kinder schon gerne Krimis gelesen.

Im Gegensatz zu ihrem jüngsten Bruder, der ebenfalls Schriftsteller ist, schrieb sie jedoch keine Kriminalromane. In ihren Werken spiegelt sich das Drama von Emigration, Entwurzelung und Einsamkeit. Sie handeln von den der Suche nach dem verlorenen Glück und deren Abgründen, vom Hoffen auf bessere Zeiten und von Resignation.

«Ärmer, aber glücklicher»

«Es ist schade, dass ich Ungarn verlassen habe. Ich bedaure es», sagt Agota Kristof, die seit über 50 Jahren in der Schweiz lebt. «Mein Leben wäre ärmer, aber glücklicher verlaufen.» Im Gegensatz zu den heutigen Flüchtlingen seien sie damals in der Schweiz noch mit Schokolade empfangen worden. Man habe ihnen Arbeit und eine Wohnung gesucht.

Es sei der Bruch der schmerze, sagt Agota Kristof. Sie wollte ihre drei Kinder deshalb nicht nach Ungarn verpflanzen, keine Flüchtlinge aus ihnen machen.

In «L’analphabète» beschreibt sie die Schweiz für die Flüchtlinge als Wüste, «durch die wir hindurch müssen, um zu dem zu kommen, was man ‹Integration›, ‹Assimilation› nennt». In den ersten Jahren nach der Emigration haben sich vier ihrer ungarischen Bekannten das Leben genommen.

Agota Kristof spricht in ihren Büchern immer wieder vom Glück der Kindheit. Ist das Glück nur in der Kindheit möglich? «Das grosse Glück liegt bei mir in der Kindheit», sagt Agota Kristof. «Und ich finde es nun im Alter ein bisschen wieder.»

Im Buch «C’est égal» finden sich folgende Sätze, die Agota Kristof schrieb als sie 25 Jahre alt war: «Und unter meinen Lidern werden die Bilder dieses bösen Traums, der mein Leben war, vorbeiziehen. Aber sie werden mir nicht mehr weh tun. Ich werde zu Hause sein, allein, alt und glücklich.»

swissinfo, Corinne Buchser, Neuenburg

Anlässlich der Verleihung des mit 25’000 Euro dotierten Österreichischen Staatspreises für europäische Literatur 2008 an Agota Kristof zeigt «Sternstunde Kunst» am Sonntag auf SF1 Eric Bergkrauts Dokumentarfilm «Kontinent K» (1998).

Der Schweizer Filmemacher begleitete die Autorin auf eine Reise nach und durch Ungarn.

2006 drehte Bergkraut einen zweiten Dokumentarfilm mit dem Titel «Agota Kristof, 9 Jahre später» (2006).

Agota Kristof wurde 1935 in Ciskvand in Ungarn geboren. Sie verliess ihre Heimat während der Revolution 1956 und gelangte über Umwege nach Neuenburg in die französische Schweiz, wo sie bis heute lebt.

Kristof ist geschieden und Mutter von drei erwachsenen Kindern.

Nachdem sie anfangs ungarische Gedichte geschrieben hatte, begann sie auf Französisch Romane zu schreiben. Ihr erstes Buch «Das grosse Heft» wurde ein weltweiter Erfolg.

Ihre Werke wurden in 38 Sprachen übersetzt.

Kristof schrieb auch zahlreiche Hörspiele und Theaterstücke.

Le grand cahier (Das grosse Heft), 1986

La preuve, 1988(Der Beweis)

Le troisième mensonge (Die dritte Lüge), 1991

Hier (Gestern), 1995

L’analphabète (Die Analphabetin), autobiographische Erzählung, 2004

C’est égal (Irgendwo), Novellen, 2006

2001 Gottfried-Keller-Preis

2005 Schillerpreis der Schweizerischen Schillerstiftung

2006 Preis der SWR-Bestenliste

2008 Österreichischer Staatspreis für Europäische Literatur

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