«Ich male ihre Gesichter, um sie nicht zu vergessen»
Yulanie Perumbadage aus Sri Lanka lebt seit drei Jahren in der Schweiz. Die politisch engagierte Künstlerin mit singhalesischen Wurzeln lebt im Exil in Schaffhausen, weil sie und ihr Mann 2009 flüchten mussten.
Eine Gestalt streckt ihre Arme quer über die blaue, graue und weisse Leinwand aus. «Das Gemälde heisst ‹Réveille› (Erwachen). Unsere Nation muss wiedererwachen und die Versöhnung suchen», erklärt die zierliche Künstlerin.
«Dazu braucht es ein Schuldbewusstsein. Wenn wir den Mut nicht haben, die Gräueltaten zuzugeben, die wir als Mehrheit andern gegenüber begangen haben, bleibt das Ziel einer allgemeinen Versöhnung unerreichbar», sagt sie.
Ein diskretes Lächeln huscht über Yulanies Gesicht, ein angenehmer Kontrast mit dem stürmischen und kalten Wind, der vor der interkulturellen Bibliothek «LivrEchange» in Freiburg heult. Das Ölgemälde ist Teil ihrer neuen Ausstellung, die in der Bibliothek bis am 27. Februar gezeigt wird – eine Kollektion von bewegenden Erinnerungen und politischen Symbolen.
«Ich male, um zu zeigen, was der Krieg der singhalesischen Gesellschaft angetan hat», sagt sie. Die Singhalesen sind mit drei Vierteln der 15 Millionen Einwohner die grösste ethnische Gruppe in Sri Lanka. Daneben gibt es zahlreiche Minderheiten wie Tamilen und Muslime.
Die 41-Jährige musste ihre Heimat 2009 zusammen mit ihrem Mann, der als Journalist arbeitet, nach mehreren Drohungen verlassen. Yulanie war Lehrerin an einer Kunstschule und politisch aktiv. Zu ihren Werken gehörten auch einige Anti-Kriegsbilder.
Als die sri-lankische Regierung 2006 den Druck auf die Tamilen im Norden und Osten verstärkte, bekamen auch singhalesische Intellektuelle, Künstler, Oppositionspolitiker und Journalisten die aufgeheizte Stimmung zu spüren.
«Mitglieder von Gruppen mit unterschiedlichen Vorstellungen wurden als Staatsfeinde und Kriminelle verfolgt, die für ihre Handlungen bezahlen mussten und in den Strassen angegriffen wurden. Zu dieser Zeit konnte man nichts veröffentlichen, was sich gegen den Krieg richtete», sagt sie.
Die Künstler wurden aber nicht nur von den Behörden, sondern immer mehr auch von der singhalesischen Bevölkerung schikaniert. «Es gab zahlreiche Vorkommnisse mit dem Schulpersonal und Nachbarn, die mich als Verräterin beschimpften. Auch mein Mann erhielt viele drohende Telefonanrufe und Botschaften. Sein Name figurierte auf einer schwarzen Liste. Die Person, deren Namen zuoberst auf der Liste stand, wurde ermordet», sagt Yulanie.
Schweren Herzens flüchtete das Paar in die Schweiz und liess Freunde und Familie zurück. «Ich musste einsehen, dass es nicht mehr möglich war, meinen künstlerischen Kampf für eine bessere Welt in der Heimat fortzusetzen.»
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«Skype»-Kontakt
Heute fühlt sie sich in der Schweiz zuhause. Schaffhausen ist ein wunderschöner Ort, und die Leute sind sehr einladend. In einem Zeitungsartikel hat Yulanie gelesen, dass die Schweiz der beste Ort sei, geboren zu werden.
Trotzdem ist das Leben für sie hier nicht einfach. Die Wahrscheinlichkeit, ihre Familie je wieder zu sehen, bleibt ein Traum. Der Kontakt beschränkt sich auf «Skype».
«Im Exil zu leben, ist schwierig. Es ist ein unbeschreibliches Gefühl», sagt sie. «Als ich herkam, habe ich nicht verstanden, was vor sich ging. Aber dank der Unterstützung des Asylzentrums habe ich Mut geschöpft und den Pinsel wieder aufgenommen.»
Farbenfreudige, kubistische Porträts schauen uns von der Bibliothekswand herunter an. «Ich lebe hier mit der Erinnerung an meine Freunde und Eltern. Ich male ihre Gesichter, um sie nicht zu vergessen», sagt sie. Ihre ruhige Haltung verdeckt die innere Aufruhr.
Neugieriges Kind
Yulanie wurde in einer ländlichen Region in der Nähe von Kurunegela im Nordwesten Sri Lankas in eine Familie von Lehrern geboren. «Ich hatte kein luxuriöses Leben, aber meine Eltern verdienten genug, um das Nötigste zu bezahlen. Wenn sie ihren Lohn erhielten, kauften sie mir jeweils ein Buch», sagt sie lächelnd.
Yulanie war ein neugieriges Kind, das schon in jungen Jahren anfing, Ungleichheiten des Lebens zu hinterfragen: Warum gehen die Kinder im Nachbarhaus ohne Essen zu Bett? Weshalb sind die Kleinbauern von reichen Grossgrundbesitzern abhängig, die ihre Familien misshandeln?
Die Jahre als Teenager waren gezeichnet von linksgerichteten, nationalistischen Aufständen, bei denen viele junge Singhalesen, unter ihnen auch Schulfreunde, den Tod fanden. Das hat Yulanie tief getroffen.
«Ich habe so viele brennende Körper auf der Strasse gesehen. Früher wurden sie zu Tode gefoltert. Um andere davor abzuschrecken, wurden sie in der Öffentlichkeit verbrannt. Das war die Situation im Süden Sri Lankas, wo die Mehrheit der Singhalesen lebte», erklärt sie.
Rund 42’000 Personen mit sri-lankischen Wurzeln leben in der Schweiz. Sie zählen zu den grössten Migrationsgruppen des Landes. 90 bis 95 Prozent von ihnen sind Tamilen.
Ein Drittel der Menschen mit sri-lankischen Wurzeln sind in der Schweiz geboren worden.
Die meisten Tamilen leben in der deutschsprachigen Schweiz, vorwiegend in den Kantonen Bern, Zürich und Basel.
Die Einwanderung tamilischer Flüchtlinge in die Schweiz begann 1984 nach dem Aufflackern des Konflikts in Sri Lanka zwischen der Regierung und tamilischen Aufständischen, die im Norden und Osten der Insel einen unabhängigen Staat anstrebten.
Bis etwa 2004 liessen sich jedes Jahr zahlreiche Flüchtlinge aus dem Inselstaat in der Schweiz nieder.
Zinnoberrot und Krücken
Gewalt und schreckliche physische und psychologische Folgen des 26 Jahre dauernden Kriegs zwischen der Regierung und tamilischen Rebellen sind wiederkehrende Themen in Yulanies Werken. «Ich verwende gerne leuchtende Farben; am liebsten Zinnoberrot.»
Grosse rote Gemälde, bedeckt von hunderten Krücken, dominieren den anschliessenden Ausstellungsraum. «Jedes Jahr sah man mehr Leute in den Strassen mit Krücken und Gliederprothesen. Hinter den Krücken sah ich ihre traurigen Geschichten. Man kann die vielen Leute zählen, die unter Kriegsverletzungen leiden, aber der unheilbare Schaden an der Gesellschaft lässt sich nicht messen», sagt sie.
Auf einem andern Bild lehnt ein Stapel Krücken aus Metall und Plastik gegen traditionelle Zeichnungen wie man sie normalerweise in buddhistischen Tempeln findet. «Wenn ein Soldat ums Leben kommt, erhält seine Familie finanzielle Unterstützung. Buddhistische Mönche feierten die Gefallenen als Helden und verehrten sie. Trauer wurde ausgeblendet und durch Kriegseuphorie ersetzt. Viele meiner Nachbarn, mit denen ich als Kind gespielt hatte, sind tot. Manche hatte ich auf der Strasse gesehen, ohne Arme oder Beine», sagt sie.
«Offiziell ist der Krieg heute vorbei. Aber es gibt weder Sieger noch Frieden, sondern nur Menschen mit Krücken.»
Aus der Ferne sinniert Yulanie immer noch über die politische Situation in ihrem Land, und sie malt sich aus, trotz der Distanz etwas bewegen zu können, um die Wunden zu heilen. «Ich habe nur meinen Zeichenstift und Pinsel als Werkzeuge, aber ich hoffe, hier in der Schweiz etwas aufzubauen. Ich versuche, Beziehungen zwischen Tamilen und Schweizern zu knüpfen», sagt sie zum Schluss.
(Übertragung aus dem Englischen: Peter Siegenthaler)
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