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Ignaz Troxler, der vergessene Erfinder der modernen Schweiz

Salle du Conseil des Etats
Bild aus dem Ständerat – mit den Corona-Schutzmassnahmen. Ohne den Einfluss Ignaz Troxlers gäbe es unter der Bundeshauskuppel keine Kammer der Kantone. Keystone / Alessandro Della Valle

Das parlamentarische System der Schweiz mit zwei Kammern ist eng an dasjenige der Vereinigten Staaten angelehnt. Diese Parallele hat einen Namen: Ignaz Troxler. In einer neuen Biografie holt der Westschweizer Historiker Olivier Meuwly diesen grossen Denker des 19. Jahrhunderts aus der Vergessenheit.

In Reden bezeichnen Politiker und Politikerinnen die Schweiz und die Vereinigten Staaten gern als «Schwesterrepubliken». Aber was steckt dahinter? Abgesehen von der Tatsache, dass beide Länder lange zu den wenigen Demokratien in einer weitgehend monarchischen westlichen Welt gehörten: Beide Nationen stützen sich auf ähnliche politische Systeme.

Diese Inspiration aus Übersee ist vor allem einem grossen Intellektuellen jener Zeit zu verdanken: Ignaz Paul Vital Troxler (1780-1866). Der gebürtige Luzerner war Philosoph, Schriftsteller, Journalist, Universitätsprofessor und hatte entscheidenden Einfluss auf die gesamte liberal-radikale Bewegung der damaligen Zeit, die den modernen Bundesstaat aus der Taufe hob.

Der Westschweizer Historiker Olivier Meuwly holt Troxler als vergessenen Gründervater der modernen Schweiz mit seiner Biografie aus der Vergessenheit zurück (Bild von 2010). Keystone

Aber Troxler auf diese Gebiete zu reduzieren, hiesse, ihm Unrecht zu tun. Er war insbesondere auch ein höchst angesehener Pädagoge und ein berühmter Arzt. Er war sogar Namensgeber eines Zaubertricks, der auf optischer Täuschung beruht und der von Magierinnen und Magiern bis heute vorgeführt wird.

swissinfo.ch: War Troxler für die Entstehung der Schweiz, wie wir sie heute kennen, wirklich so wichtig?

Olivier Meuwly: Ja, sein Einfluss war fundamental. 1847 gab es zwei gegensätzliche Meinungen: Auf der einen Seite standen die Befürworter eines zentralistischen Systems mit einem einzigen Parlament. Auf der anderen Seite standen die Föderalisten. Sie hatten in Troxler einen ihrer grössten Wortführer gefunden.

Der Föderalismus passte ganz in sein romantisches Weltbild. Für Troxler war eine Schweiz ohne einen echten Raum für die Kantone nicht mehr wirklich die Schweiz. Er scharte ehemalige Studenten um sich, die seine Sicht in der konstituierenden Versammlung von 1847 unterstützten.

Das amerikanische Modell der repräsentativen Demokratie war in der Schweiz bereits seit der Jahrhundertwende bekannt. Aber Troxler nahm dieses vor allem für sein Konzept einer föderalistischen Schweiz auf.

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Umschlagbild von Olivier Meuwlys Biografie. Editions Infolio

Am Ende schwenkten auch die Befürworter einer zentralistischen Lösung auf Troxlers Konzept ein. Sie hofften, mit einem Kompromiss ihre Vision eines modernen Bundesstaates retten zu können.

Troxler selbst hatte nur ein kleines politisches Amt inne – er war während zweier Jahre Mitglied eines kantonalen Parlaments. Warum aber war er dennoch so einflussreich? War er ein Influencer, wie wir heute sagen?

Er war in erster Linie ein Staatsphilosoph, wie die Deutschen sagen. So fand er die Mittel, um Einfluss zu haben. Mit ehemaligen Studenten baute er ein Netzwerk auf. Er war ein Denker, ein Philosoph, einer der wenigen Romantiker, die direkten Einfluss auf Entscheidungen hatten.

Das Zweikammersystem der Schweiz mit dem Nationalrat als Kammer des Schweizer Volks und dem Ständerat als Kammer der Kantone erinnert klar an das amerikanische System mit Repräsentantenhaus und Senat.

Und das mit gutem Grund, denn die Gründerväter des Schweizer Bundesstaats von 1848 – Frauen waren damals «natürlich» keine dabei – orientierten sich am amerikanischen Politikmodell.

Dazu gilt es aber auch zu sagen, dass damals die USA die erste und bis anhin einzige Demokratie waren.

Troxler war der grösste helvetische Fürsprecher des US-Modells. Doch der brillante Geist ist später in völlige Vergessenheit geraten. Dies insbesondere auch in der französischsprachigen Westschweiz.

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Sie betonen die Bedeutung der Romantik für sein Denken. Wie genau äussert sich das?

Die Romantik war am Ende des 18. Jahrhunderts eine Art Opposition zum Rationalismus der Aufklärung. Die Romantik will die Welt anders sehen als die Rationalität des Beobachtbaren.

Dieser Romantizismus zeigt sich insbesondere in seinem Denken und Wirken als Arzt. Etwa in seinem Kampf gegen den physischen Kretinismus. Troxler ist einer der Architekten dessen, was die Fachleute heute als romantische Medizin bezeichnen.

Diese öffnete dann den Weg zur Psychoanalyse, indem sie den Menschen auf eine andere Weise wahrnimmt als durch seine rein physiologischen und biologischen Funktionen. Es ist eine ganzheitliche Vision, die dem romantischen Denken verhaftet ist.

In seiner kürzlich erschienenen Biografie «Troxler, Inventeur de la Suisse moderne»Externer Link rückt der Historiker Olivier Meuwly eine Persönlichkeit ins Rampenlicht, die, wie er schreibt, «unbestreitbar einer der grossen Männer der Schweizer Geschichte» ist. Das Werk liegt in der französischen Version vor.

Politisch spiegelt sich seine Romantik in der Verbundenheit mit der mittelalterlichen Schweiz, verkörpert durch die Kantone als organische Zellen der neuen Schweiz.

Er ist ein Nostalgiker der mittelalterlichen Schweiz, aber man könnte ihn auch den Erfinder der modernen Schweiz nennen. Das ist auf den ersten Blick ein bisschen widersprüchlich.

Der Radikalismus des 19. Jahrhunderts bestand aus einer Vielzahl von Strömungen und Gedanken, und Troxler befruchtete fast alle davon. Er verteidigte insbesondere den politischen Liberalismus und hielt später auch an der Idee der direkten Demokratie fest. Er verkörperte einen möglichen Weg, die Werte des Liberalismus mit jenen der Romantik zu verbinden.

Er nährte gewissermassen alle Fasern dessen, was damals die moderne Schweiz ausmachte. Als Professor hatte er Einfluss auf alle Studentenbewegungen. Sie unterstützten die liberal-radikalen Eliten des 19. Jahrhunderts und bildeten einen Pool, aus dem neue Köpfe dieser Strömung hervorgingen.

Troxler ist eine bedeutende Figur, einer der fruchtbarsten und originellsten Autoren seiner Zeit. Dies aufgrund seiner Universalität, Vielseitigkeit und seiner Rolle bei der Schaffung des neuen Bundesstaats.

Und doch erinnert man sich kaum mehr an ihn, schon gar nicht in der Westschweiz.

Ja, aber in den letzten Jahren hat sich das wieder ein wenig geändert. Nach einer grossen Finsternis wird er durch die Forschung wiederentdeckt. Vielleicht hängt es auch mit der aktuellen Stimmung zusammen: Wir befinden uns wieder in einer etwas romantischen Phase, in der reiner Rationalismus nicht mehr so en Vogue ist. Auch Troxlers pädagogisches Denken ist heute für viele Menschen von Interesse.

Das mit dem Bekanntheitsgrad ist ein altbekanntes Schweizer Problem. Grosse Figuren und herausragende Persönlichkeiten von nationaler Ausstrahlung sind selten. Meist dominiert die kantonale Perspektive. Im Kanton Zürich ist es beispielsweise ein Alfred Escher. Jeder Kanton tut sich schwer damit zu sagen, dass es auch anderswo grosse Menschen gibt.

Manchmal kommt da auch eine Engstirnigkeit zum Vorschein. Das Schweizer System mit seinem kollegialen und auf Konsens ausgerichteten Charakter begünstigt dies noch, ist es doch darauf ausgelegt, herausragende Persönlichkeit wieder auf Mittelmass zu stutzen. Das zeigt sich auch in der Geschichte.

Die schönste Ehrung für ihn war, dass ihn ein Agent der Heiligen Allianz, die Napoleon besiegte als den «gefährlichsten Schriftsteller der Schweiz» bezeichnete.

Das ist richtig (lacht). Er hatte eine herausragende Rolle. In der Schweiz ist es wirklich selten, dass ein Intellektueller einen so enormen Einfluss hat.

(Übertragung aus dem Französischen: Renat Kuenzi)

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